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Ingrid

Ingrid

Titel: Ingrid
Autoren: Felix Thijssen
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doch sie stieß sich mit den Füßen kräftig vom Deckrand ab und war weg, ehe ich reagieren konnte.
    Ingrid war frei. Ich erkannte es, als sie vom Schiff hinunter sprang und dabei die Arme ausbreitete und den Kopf hob, sodass ihr blondes Haar auf dem Wind tanzte, atemberaubend elegant und selbstbewusst, in einer letzten, verwegenen Demonstration ihres freien Willens.
    Ich hing über der Reling und sah sie fallen, fünfzig Meter tief, hin zu Erlösung und Freiheit, die Arme noch immer ausgebreitet, schwebend, bis sie so klein wurde wie eine Möwe, auf dem Wasser aufschlug und in der brausenden Heckwelle davontrudelte.

 
20
     
     
    Nel hatte Tommy sofort hinuntergetragen, wahrscheinlich, um ihn vor weiteren Traumata zu behüten. Ich wüsste wenig über kleine Kinder, aber zwei tote Mütter innerhalb eines Monats konnten einfach nicht sehr gesund sein.
    Ich gab mir zwei Sekunden, um eine Entscheidung zu treffen.
    Alarm schlagen. Frau über Bord.
    Man würde das Schiff stoppen und wenden. Die Botafoc würde zwei Stunden lang Kreise und immer weitere Kreise im Nebel ziehen, durch das aufgewühlte Meer. Helikopter würden vom Festland aus angeknattert kommen. Einer davon, mit spanischen Polizisten an Bord, würde auf der Botafoc landen. Ich hatte das schon einmal erlebt, auf dem Weg nach Irland. Es war nachts, ein betrunkener Schüler ging über Bord. Er wurde stundenlang gesucht, mit Scheinwerfern und Helikoptern. Die Chancen, in der wogenden See ein menschliches Wesen zu finden, sind verschwindend gering, vor allem, wenn jemand nicht gefunden werden will. Die meisten Menschen schrecken im letzten Moment zurück und fangen an, aus Angst vor dem Tod um Hilfe zu rufen. Nicht Ingrid. Ich hatte ihren Abgang miterlebt.
    Sind Sie der Herr, der »Frau über Bord« gerufen hat? Kannten Sie sie? Hatten Sie Streit mit ihr? Was haben Sie allein mit ihr auf dem Achterdeck gemacht? Sind Sie ihr gefolgt? Nun, darum werden sich die Justizbehörden in Barcelona kümmern. Bitte folgen Sie uns.
    Ich konnte Tommy unmöglich erwähnen. CyberNel wusste, wie die Mühlen der Justiz mahlten. Sie würde instinktiv versuchen, Tommy vor der Einweisung in ein spanisches Heim und Verhören zu beschützen, die ihm lebenslange Albträume bescheren würden. Ich wusste, dass sie sich nicht einmischen und sich unbemerkt mit Tommy von Bord stehlen würde, um ihn über die Grenze zu seinem Vater zu bringen. Tommy zu melden war gleichbedeutend damit, ihn in Quarantäne zu schicken. Er besaß keine Papiere, gehörte zu niemandem. Vielleicht war er noch nicht einmal auf Ingrids Ticket eingetragen, Kleinkinder reisten gratis.
    Sie würden ihn wochenlang festhalten, und uns auch. Vielleicht gelänge es Niessen nach einem Monat, uns an die niederländischen Justizbehörden ausliefern zu lassen, doch was Tommy betraf, war der Schaden bis dahin bereits unwiderruflich angerichtet.
    Sie kannten Sie nicht? Aber Sie kommen doch aus demselben Land, sieh mal einer an, laut Ihren Papieren sogar aus demselben Dorf, ist das nicht ein Zufall? Ist das eigentlich ihre Windjacke, die sie da in der Hand halten? Sie waren allein mit ihr auf dem Achterdeck? Was hatten Sie dort zu suchen? Nun, dann kommen Sie mal schön mit uns, freiwillig oder in Handschellen, dann werden wir die Sache in Barcelona in aller Ruhe klären.
    Tommy hatte in die Hose gemacht. Da Nel nichts zum Anziehen für ihn hatte, hatte sie ihn ausgezogen und in ein Handtuch gewickelt. Jetzt saß sie auf ihrer Koje, hielt ihn in den Armen und flüsterte in sein blondes Haar: »Wir fahren jetzt nach Hause, wir fahren jetzt nach Hause.« Sie streichelte seine Locken und schaute mich über seinen Kopf hinweg an.
    »Sie ist weg«, sagte ich.
    »Und?«
    »Wir bringen ihn nach Hause.«
    Nel nickte. Sie war damit einverstanden. Ich folgte ihrem Blick und erkannte, dass ich Ingrids Windjacke noch immer in der Hand hielt. Ich suchte in den Taschen und fand den Schlüssel zu ihrer Kabine.
    »Die Tüte mit den Brötchen liegt noch draußen«, bemerkte Nel pragmatisch.
    Ich ging zu ihr hin und fuhr Tommy durch die Locken. Er hob den Blick, blass und verwirrt, und ich war froh über meine Entscheidung.
    »Weißt du noch, wer ich bin?«, fragte ich.
    Seine eigenartigen Augen leuchteten. »Von nebenan, mit den Kaninchen?«
    »Ja, und das ist Nel. Wir bringen dich nach Hause.«
    »Ist Mami auch da?«
    Ich erkannte, dass er Jennifer meinte, und nicht Ingrid, und erinnerte mich an die Psychologie von Zweijährigen. Sie
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