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Die Jagd auf die Venus

Die Jagd auf die Venus

Titel: Die Jagd auf die Venus
Autoren: Andrea Wulf
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Prolog
Die Herausforderung

    Die alten Babylonier nannten sie Ischtar, für die Griechen war sie Aphrodite und für die Römer Venus  – die Göttin der Liebe, der Fruchtbarkeit und der Schönheit. Sie ist der hellste Stern am Nachthimmel und sogar an einem klaren Tag zu sehen. Für einige kündigte sie Morgen und Abend, für andere neue Jahreszeiten oder bedeutsame Epochen an. 260 Tage lang regiert sie als »Morgenstern« oder »Bringer des Lichts«, dann verschwindet sie und geht wieder auf als »Abendstern« und »Bringer der Morgendämmerung«.
    Jahrhundertelang hat Venus die Menschheit inspiriert, doch in den 1760er Jahren waren die Astronomen überzeugt, dass der Planet die Lösung für ein sehr gewichtiges wissenschaftliches Problem liefern könnte: die Antwort auf die Frage nach der Größe des Sonnensystems. Ref 1
     
    1716 rief der britische Astronom Edmond Halley in einem zehnseitigen Aufsatz seine Kollegen auf, sich gemeinsam an einem weltweiten Projekt zu beteiligen  – ein Projekt, das die Welt der Wissenschaft unwiderruflich verändern könnte. Am 6. Juni 1761, so sagte Halley vorher, werde die Venus vor der Sonne vorüberziehen, für wenige Stunden werde der helle Stern als kleine, vollkommen schwarze Scheibe sichtbar sein. Er glaubte, durch eine Messung der genauen Zeit und Dauer dieses seltenen Himmelsereignisses
würden sich die Daten zusammentragen lassen, die die Astronomen brauchten, um die Entfernung von der Erde zur Sonne zu berechnen.
    Allerdings gab es ein Problem: Der sogenannte Venus-Transit oder Venus-Durchgang ist eines der seltensten vorhersagbaren Ereignisse. Diese Durchgänge treten immer paarweise auf  – im Abstand von acht Jahren, aber mit einem Intervall von mehr als einem Jahrhundert, bevor sie sich wieder beobachten lassen. 1 Laut Halley hatte es erst ein einziges Mal eine Beobachtung des Ereignisses gegeben, und zwar durch den britischen Astronomen Jeremiah Horrocks. Das nächste Paar würde 1761 und 1769 auftreten, und danach erst wieder 1874 und 1882. Ref 2
    Halley war sechzig Jahre alt, als er seinen Aufsatz schrieb, und wusste, dass er den Transit nicht mehr erleben würde (es sei denn, er würde 104 Jahre alt), aber er wollte dafür sorgen, dass die nächste Generation gut vorbereitet war. In der Zeitschrift der Royal Society, der wichtigsten wissenschaftlichen Institution Großbritanniens, erläuterte Halley genau, warum dieses Ereignis so wichtig war, was die »jungen Astronomen« zu tun hatten und wo sie den Venus-Transit beobachten sollten. Er schrieb auf Latein, der internationalen wissenschaftlichen Verkehrssprache, um in ganz Europa so viele Astronomen wie möglich zur Teilnahme an seinem Projekt bewegen zu können. Je mehr Menschen er erreichte, desto größer die Aussichten auf Erfolg. Es sei von größter Wichtigkeit, erläuterte Halley, dass möglichst viele Menschen an verschiedenen Orten auf der Erde das seltene himmlische Zusammentreffen
von Sonne und Venus zur selben Zeit beobachteten. Es reiche nicht aus, den Durchgang der Venus nur von Europa aus zu betrachten; Astronomen müssten auch abgelegene, möglichst weit auseinanderliegende Orte auf der nördlichen und südlichen Erdhalbkugel aufsuchen. Und nur wenn sie ihre Ergebnisse zusammenfassten  – wobei die nördlichen Daten das Gegenstück zu den südlichen Beobachtungen bildeten  –, konnten sie schaffen, was bis dahin unvorstellbar schien: eine exakte mathematische Erfassung der Dimensionen unseres Sonnensystems  – der heilige Gral der Astronomie.
    Hunderte von Astronomen folgten Halleys Aufruf zu diesem Transit-Projekt. Sie kamen im Geist der Aufklärung zusammen. Das Wettrennen um die Beobachtung und Messung des Venus-Transits war ein Schlüsselmoment der neuen Zeit, einer Epoche, in der man die Natur mit Hilfe der Vernunft zu verstehen suchte. Die Wissenschaft wurde verehrt, und rationales Denken verdrängte die Mythen. Der Mensch begann, die Welt nach rationalen Prinzipien zu ordnen. So trug der Franzose Denis Diderot alles verfügbare Wissen in seiner monumentalen Encyclopédie zusammen. Der schwedische Botaniker Carl Linnaeus klassifizierte Pflanzen nach ihren Geschlechtsorganen, und 1751 brachte Samuel Johnson mit der Zusammenstellung des ersten englischen Wörterbuchs Ordnung auch in die Sprache. Mit der Erfindung von Mikroskopen und Teleskopen eröffneten sich bis dahin unbekannte Welten, denn die Forscher konnten nun die winzigsten Einzelheiten und die Unendlichkeiten der
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