Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ingrid

Ingrid

Titel: Ingrid
Autoren: Felix Thijssen
Vom Netzwerk:
Einfahrt rief eine Frau: »Tommy? Tommy?«
    »Ninchen?«, sagte der Kleine.
    Ich ging von meiner Terrasse herunter auf ihn zu und fragte: »Bist du denn der Tommy?«
    Der Dreikäsehoch schaute mich an und hielt drei Finger hoch. »Ich bin schon zwei.«
    Er war ein typisch holländischer Lausbub, weißblond und mit seltsam weit auseinander stehenden, blauen Augen.
    »Und, bist du denn der Tommy?«
    Ich nahm an, dass er aus dem umgebauten Heuschober kam, der auf der anderen Seite der Hecke stand und wahrscheinlich zu meinem Haus gehört hatte, als es noch ein Bauernhof gewesen war – ein quadratisches Gebäude mit einem spitzen Reetdach, Backsteinmauern, schwarz versiegelten Holzplanken und freundlichen kleinen Fenstern in weißen Rahmen. Die Bewohner hatte ich bisher noch nicht kennen gelernt.
    »Mevrouw?«, rief ich in Richtung Hecke. »Ich glaube, Tommy ist hier.«
    Ich hörte ein erleichtertes Seufzen.
    »Sind sie weggelaufen?«, fragte der kleine Junge enttäuscht.
    Ich hatte die platt getretene Lage Stroh und die Köttel in den Ecken der Käfige bisher noch gar nicht bemerkt. »Sind hier Kaninchen drin gewesen?«
    »Tommy!« Eine zarte Frau in einem Bauwollsommerkleid und Sandalen kam meine Einfahrt hinunter. »Du darfst hier doch nicht einfach so reinlaufen.«
    Tommy gab mir sein Butterbrot. »Für Herman«, sagte er. »Das ist das braune.«
    Das braune Kaninchen, nahm ich an. Ich lächelte die Frau an. »Aber er stört mich doch gar nicht.«
    »Er hat immer die Kaninchen gefüttert …« Die Frau nahm Tommy auf den Arm. »Ich hab dir doch gesagt, dass sie weggezogen sind.« Mit ihren braunen Augen, dem kurz geschnittenen, kastanienbraunen Haar, den Sommersprossen auf der Nase und dem kleinen Mund mit bleichen Lippen erinnerte sie mich an eine Hirschkuh. »Entschuldigung«, sagte sie dann. »Ich bin Jennifer van Maurik. Wir wohnen nebenan.« Überflüssigerweise wies sie mit einem Nicken auf die Hecke.
    »Max Winter.«
    Umständlich reichte sie mir unter Tommy hindurch ihre Hand, die kräftig und hornhautbewehrt war. Sie musste jünger sein als Ingrid, doch sie wirkte älter und klüger, irgendwie erwachsener, als habe sie einiges mitgemacht und schon in jungen Jahren ihren Lebensunterhalt selbst verdienen müssen. »Haben Sie das Haus gekauft oder gemietet?«, fragte sie.
    »Ich habe es gekauft.«
    »Also haben Sie vor, hier wohnen zu bleiben?«
    »Ich kann schlecht Voraussagen über den Rest meines zukünftigen Lebens treffen«, antwortete ich. »Obwohl ich wahrscheinlich nie Kaninchen halten werde.«
    Einen Augenblick lang sprach aus ihren Augen ein gewisser Argwohn, als frage sie sich, was ich damit meinte. Dann lächelte sie, was ihr Gesicht gleich hübscher machte. »Sagen Sie Bescheid, wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann«, sagte sie. »Ingrid haben Sie ja schon kennen gelernt, wie ich gesehen habe.« Sie streichelte den blonden Hosenmatz, der sich ungeduldig an ihre Schulter lehnte. Sein Gewicht schien sie nicht zu stören. Sie war schmal, aber muskulös.
    »Ich habe mich schon gefragt, ob ich der Einzige war, der das Geschrei gehört hat.«
    »Ich war gerade beim Bügeln, und als ich gucken kam, hatten Sie sie schon ans Ufer gebracht. Da dachte ich mir, das geht schon in Ordnung, die brauchen mich nicht.«
    Ich hörte keinen zweideutigen Unterton aus ihren Worten heraus, spürte aber, dass er da war und musste mir Mühe geben, nicht zu erröten. »Sie kennen sie also?«
    »Sie können mich ruhig duzen. Ja, Ingrid passt oft auf Tommy auf. Sie selbst möchte keine Kinder haben, ist aber verrückt nach dem Kleinen, stimmt’s, Mäuschen?«
    Tommy zappelte ein wenig herum. »Ich will runter«, sagte er.
    »Ja, ja, wir gehen gleich.« Jennifer nahm ihn auf ihre Hüfte. »Sie wohnt ein paar Häuser weiter, es ist also ziemlich praktisch. Ihr Mann ist Schriftsteller, das hat sie Ihnen sicher erzählt.«Nein, hatte sie nicht. »Du wohnst aber auch hübsch hier«, sagte ich.
    »Ja, aber mein Haus ist nur gemietet.« Für einen Augenblick wirkte ihr Lächeln gezwungen, als müsse sie einen bedrückenden Gedanken vertreiben. »Kommen Sie doch mal auf eine Tasse Kaffee rüber, dann können Sie es sich anschauen. Aber jetzt muss ich Tommy ins Bett bringen, er schläft mittags noch ein Stündchen. Tschüs, bis bald!« Jennifer nahm ihren Sohn fester auf den Arm und trug ihn den Deich hinauf. Dort setzte sie ihn ab, nahm ihn an der Hand und verschwand mit ihm hinter der Hecke.
     
    Eine Stunde später
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher