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Ingrid

Ingrid

Titel: Ingrid
Autoren: Felix Thijssen
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ohne mich los. Es ist einfach alles schief gegangen.«
    Sie sah verführerisch aus mit ihren nackten Füßen auf den blauen Fliesen. Sie hatte blaue Augen und hohe Wangenknochen, eine ganz leichte Stupsnase, strohblondes Haar, das noch feucht war, und ein intelligentes Gesicht. Sie mochte einem Geschlecht von Gehirnchirurgen oder Ethikprofessoren entstammen, aber ihr Mund hätte ebenso gut in eine Zahnpastareklame gepasst, mit diesem elfenbeinweißen Glänzen zwischen den vollen Lippen, die sie einladend einen Zentimeter weit geöffnet hielt. Die Signale, dass diese Lippen geküsst werden wollten, summten schon geraume Zeit durch den Äther, aber ich versuchte noch eine Weile lang so zu tun, als sei dies ein normaler Tag in einem normalen Leben, an dem Dorfbewohner durch einen unbedeutenden Vorfall miteinander Bekanntschaft gemacht hatten und gleich ein Gläschen Sherry trinken würden.
    Ich zeigte ihr das kühle Gästezimmer auf der hoch gelegenen Nordseite, meinen Vorratsschrank und sogar das Kabuff mit dem Heizkessel, bis ich alle unschuldigen Alternativen erschöpft hatte und ihr die Holztreppe zum Schlafzimmer vorausging. Es war ein romantischer Raum unter dem Reetdach mit einer hübschen Holzverkleidung und dunklen Balken, Lamellentüren vor den Kleiderschränken und einem niedrigen Fenster nach Süden, doch ich hatte nicht den Eindruck, dass ihr Interesse weiter reichte als bis zu dem Bett aus hellem Holz.
    »Bleib mal kurz stehen«, sagte sie und begann, mein Hemd aufzuknöpfen. Unwiderstehliche Duftwolken mit einem Aroma von grünem Apfel und warmer Haut stiegen aus dem Bademantel auf.
    Der Morgen erhielt einen Hauch von Unwirklichkeit, der mich aus der Fassung brachte. Ich machte mir kaum Gedanken darüber, dass sie nichts von mir wusste und mir keine einzige persönliche Frage gestellt hatte. Ich hatte sie ja auch nichts gefragt. Sie hätte mit dem örtlichen Polizeichef oder dem Kapitän des Gelderländer Rugbyteams verheiratet sein können – falls es so etwas gab –, oder vielleicht Mutter von zwölf Kindern, obwohl mir Letzteres doch sehr unwahrscheinlich erschien, als sie mit einem fröhlichen »Willkommen auf dem Deich!« den Bademantel auf den Holzfußboden fallen ließ.
     
    Ich hätte eigentlich Kisten auspacken und andere Dinge erledigen müssen, doch ich entschloss mich stattdessen zu einem Glas Whisky mit viel Eis auf meiner Terrasse über den Schmetterlingen und versuchte, wieder in die Realität zurückzufinden. Meine erste Bekanntschaft mit dem Landleben kam mir vor wie ein Ereignis aus einer anderen Zeit. Denn einer kürzlichen Umfrage unter Teenagern zufolge war es neuerdings »in«, mit siebzehn noch Jungfrau zu sein, und angeblich wollte der überwiegende Teil der jungen Europäer von One-Night-Stands und Sex ohne Unterschriften unter langfristigen Verträgen nichts mehr wissen. Möglicherweise hatte mich eine Laune des Schicksals in das letzte Bollwerk der zügellosen Sechzigerjahre verschlagen.
    Ich wusste, dass sie Ingrid hieß, sonst nichts. Nach anderthalb Stunden, ein paar letzten Küssen und einem errötenden »Tschüs Max, vielen Dank und bis bald« war sie verschwunden. Die angenehme Portion Mittagssex erschien mir ein übertriebener Ausdruck ihrer Dankbarkeit beziehungsweise ihrer Erleichterung, weil ich sie aus dem einen Meter tiefen Wasser der Linge gerettet hatte. Vielleicht war sie reich und verwöhnt und auf der Suche nach Abenteuern, oder eine gelangweilte Nymphomanin. Ich hatte keinen Grund zur Klage, aber irgendwie störte es mich – in einer Art postkoitalem Tief –, dass sie nichts von sich selbst preisgegeben hatte, nur ihren köstlichen Körper, der eine Stunde lang aufregende Befriedigung geschenkt und genommen hatte.
    Willkommen auf dem Deich?
    Der exotische Kolibri war nirgendwo mehr zu entdecken. Stattdessen tauchte ein blonder Dreikäsehoch auf, in hellgrüner Hose und mit bunten Hosenträgern über einem rosafarbenen Hemd. Er hielt ein Butterbrot in der Hand und trippelte, ohne mich eines Blickes zu würdigen, zielstrebig über meine gepflasterte Einfahrt auf meinen Carport zu.
    »Hallo?«, rief ich leise, um ihn nicht zu erschrecken.
    Er wuselte am Kühlergrill meines BMW vorbei und blieb neben dem Carport stehen. Er neigte sein rundes Köpfchen zur Seite und zeigte mit dem Brot auf die Ställe, die der frühere Hausbesitzer an der Seitenwand aufgestellt hatte. »Essen«, sagte er.
    Hinter der hohen Hecke aus Hainbuchen und anderem Gesträuch entlang der
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