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Das Laecheln der Chimaere

Das Laecheln der Chimaere

Titel: Das Laecheln der Chimaere
Autoren: Tatjana Stepanowa
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    »Waleri Wiktorowitsch, es ist Punkt zehn. Sie wollten die Nachrichten hören.«
    Gleb Kitajew, der am Steuer saß, blickte im Spiegel zu seinem Chef und Arbeitgeber, Waleri Saljutow, hinüber, der es sich auf dem Rücksitz bequem gemacht hatte. Saljutow gab, in Gedanken vertieft, keine Antwort. Kitajew schaltete das Autoradio ein. Es konnte für den Chef nur von Nutzen sein, die letzten Neuigkeiten über diesen Fall zu erfahren, bevor sie an ihrem Ziel eintrafen.
    »Was für ein Schneesturm . . . Der passt richtig zu Silvester, so wild und ausgelassen.« Kitajew räusperte sich und verstummte. Er trat aufs Gaspedal.
    Bis zur Umgehungsstraße waren es noch mehrere Kilometer. Vorher kam noch das Flüsschen Glinka mit der huckligen Brücke. 1973 war hier ein schwerer Autounfall passiert. Eine Hochzeitslimousine, eine »Tschaika«, war von der Brücke ins Wasser gestürzt. Das Brautpaar, das gerade vom Standesamt kam, ertrank. Den völlig verbeulten, noch mit bunten Bändern umwundenen und mit Trauringen geschmückten Wagen zog man mit einem Kran heraus. Auch die Leiche des Chauffeurs wurde geborgen. Aber Braut und Bräutigam fand man nie. Wahrscheinlich hatte die Strömung sie mit sich gerissen.
    Sie waren also nicht beerdigt worden. Und seitdem munkelte man immer wieder, man habe in stürmischen Winternächten das Brautpaar auf der Brücke gesehen. Die hochschwangere Braut habe immer noch ihr Hochzeitskleid getragen und einen zerrissenen Schleier aus Nylonspitze.
    Auf der Brücke blitzte im Dunkel des Schneegestöbers etwas Weißes, Verschwommenes auf. Schwer schlug der Schnee an die Scheibe. Was für ein Sturm . . .
    Saljutow wandte sich vom Fenster ab und lauschte den Radionachrichten. Aber er begriff kein Wort. Er dachte daran, dass jenes Mädchen, das im fernen Jahr 1973 so unglücklich von der Brücke gestürzt war, bei ihrer Heirat schon im siebten Monat schwanger gewesen war. Ein kleines, zerbrechliches, schwangeres Gespenst, das in der Rubljowskoje-Chaussee spukte. Saljutow dachte oft daran – fast jedes Mal, wenn er von Moskau zurück nach Hause fuhr oder von dort nach Moskau. Er stellte sich diese schon so lange zurückliegende Hochzeit vor, den verwegenen, betrunkenen Chauffeur, die beiden Jungvermählten, die sich auf dem Rücksitz der mit Bändern geschmückten »Tschaika« küssten, sah den sich wölbenden, von dem engen weißen Kleid umspannten Bauch der Braut vor sich, die noch ungeschickten, aber schon kühn sich vorwagenden Hände des blutjungen Bräutigams. Alles stellte er sich vor, nur nicht das, was sich hinter dem Wort »Autounfall« verbarg. Dieses Wort wollte sich seit einiger Zeit einfach nicht in seinem Gedächtnis halten. Vierzig Tage schon, dass es seinem Vorstellungsvermögen entglitt und sich verflüchtigte wie Rauch.
    Vielleicht war es alles nur ein Traum? Er hatte nur geträumt, dass sein Sohn gestorben war? Umgekommen bei einem ebenso grässlichen Ereignis, wie es dieses unaussprechliche, peinigende Wort bezeichnete, ein Wort, hinter dem sich das Knirschen von Metall verbarg, das Kreischen versagender Bremsen, züngelnde Flammen, schwarze Rußflocken, zerfetzte Hochzeitsbänder, ein benzindurchtränkter Brautschleier, der wie eine Fackel aufloderte . . .
    »Sie hätten vorher mit Maklakow sprechen sollen. Er ist mit allen Wassern gewaschen, auf seinen Rat kann man sich verlassen.«
    Saljutow blickte Kitajew an. Wovon redete er?
    »Sie hätten ihn gestern Abend anrufen sollen, Waleri Wiktorowitsch, und ihm sofort von der Vorladung berichten müssen . . .«
    Saljutow dachte: Wie sonderbar. Seit einiger Zeit muss ich mir die einfachsten menschlichen Worte und Taten in eine noch vereinfachtere Sprache übersetzen, um zu verstehen, was man eigentlich von mir will. Auch jetzt übersetzte er sich selbst: Gleb Kitajew, der Chef meines Sicherheitsdienstes, meint, ich hätte mich sofort mit meinem Anwalt Maklakow in Verbindung setzen sollen, nachdem die Staatsanwaltschaft mich für heute, 11.30 Uhr, vorgeladen hat.
    Kitajew schien wegen dieser Vorladung in großer Unruhe zu sein. Machte er sich Sorgen um ihn, Saljutow? Befürchtete er, dass irgend so ein verbiesterter Paragrafenhengst von der Staatsanwaltschaft seinen Chef und Arbeitgeber ausgerechnet heute mit seinen Fragen löchern würde? Am vierzigsten Todestag des eigenen Sohnes wegen einer Mordsache zur Staatsanwaltschaft zu müssen – das ist für niemanden angenehm. Und wenn der Ermordete auch noch ein alter Bekannter ist. .
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