Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ingrid

Ingrid

Titel: Ingrid
Autoren: Felix Thijssen
Vom Netzwerk:
ist alles meine eigene Schuld, es ist meine gerechte Strafe.«
    Ich sah, dass wir ihre Einfahrt erreicht hatten. Das Reet auf ihrem Heuschober ragte stumpfgrau über den Sträuchern empor. »Strafe? Wofür?«
    »Irgendwann muss man für alles bezahlen.«
    Sie fing an zu weinen, und ich nahm sie in den Arm. Sie hatte ein paar Gläser zu viel getrunken, und in diesem Moment wirkte sie in meinen Augen wie ein Opfer der Reichen und Mächtigen in einem kitschigen Heimatroman. »Aber Jennifer, das ist doch Unsinn«, sagte ich beruhigend.
    »Und warum muss ich das dann alles mitmachen?«, schluchzte sie.
    Vielleicht glaubte sie an eine Art rächendes Schicksal. »Die Menschen fragen immer nach dem Warum, dabei gibt es das oft gar nicht«, sagte ich. »Jeder, der die Straße überquert, kann überfahren werden.« Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie mir zuhörte, doch der Klang meiner Stimme schien sie zu beruhigen. »Es gibt keinen Buchhalter, der das Schicksal lenkt, weder im Guten noch im Bösen. Kein Mensch kann ernsthaft behaupten, die zahllosen Opfer eines Erdbebens hätten es allesamt verdient zu sterben.«
    Ich merkte, wie sie sich entspannte. Sie brauchte nur eine tröstende Stimme, eine Schulter zum Ausweinen. Jennifer schlug sich nicht mit existenziellen Warumfragen herum, sondern mit konkreten Überlebensproblemen vom Kaliber Bokhof.
    Sie klammerte sich an mich und sagte: »Du bist ein lieber Nachbar.«
    Allmählich verursachten mir meine Nachbarinnen Beklemmungen. »Und du hast zu viel getrunken und musst ins Bett«, antwortete ich.
    Sie erschauerte. »Vielleicht lauert er mir auf.«
    »Hat er einen Schlüssel?«
    »Natürlich hat er einen Schlüssel, schließlich ist er der Vermieter.«
    Ich brachte sie die Einfahrt hinunter. Sie winkte mich hinten herum und gab mir den Haustürschlüssel. »Warte einen Moment«, sagte ich.
    Ich schaltete das Licht ein und erkannte, dass ich mich in einem Vorratsraum neben der Küche befand, mit Waschmaschine, Tiefkühltruhe, Dreirad, Garderobe mit Regenmänteln und Stiefeln in den Größen von Mutter und Sohn. So weit alles in Ordnung. Ich öffnete die Tür zum eigentlichen Wohnbereich, fuhr über die Wand und fand einen Schalter. Zwei Korbschirmlampen erhellten einen Esstisch aus hellem Holz, um den Korbstühle standen. Ich sah eine geräumige, freundliche Wohnküche, mit einer Sitzecke vor einem Fernseher, gelb karierten Gardinen, einer Kochnische und kleinen Schränken unter einem auf schweren Balken ruhenden Halbgeschoss, Malbücher auf einem Regal unter dem Fenster, eine Spielzeugwerkstatt.
    Jennifer kam hinter mir herein und warf bedeutungsvoll einen Blick nach oben. Ich ging die offene Treppe hinauf zu einem schmalen, geländerbewehrten Treppenpodest auf dem Halbgeschoss. Ich öffnete zwei Schlafzimmertüren und schaltete das Licht in beiden Räumen ein. In einem davon standen ein Kinderbettchen, Aufbewahrungskisten aus Korb und eine Kommode. Eine Tür führte zu einem Holzbalkon auf der Rückseite des Heuschobers, doch ich sah, dass sie fest verriegelt war. Daneben lag Jennifers Zimmer, mit Holzbett, Kleiderschränken, einem Waschbecken, Zeitschriften. Kein Bokhof.
    Ich ging hinunter und beruhigte sie. »Der lässt sich bestimmt nicht mehr blicken. Schließ deine Tür ab und versuche, nicht an ihn zu denken. Gute Nacht, schlaf schön.«
    Ich wartete, bis sie die Tür abgeschlossen hatte, und lief, bevor ich nach Hause ging, noch einmal um den Heuschober herum. Dabei hatte ich das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden – wahrscheinlich eine Nachteule oder Jennifers personifizierte Paranoia. Alles war ruhig. Mein Hemd klebte mir an der Schulter, durchnässt von Jennifers Tränen.

 
     
     

2
     
    »Was machst du gerade?«, fragte CyberNel am Telefon.
    »Bücher auspacken. Meinen Computer anschließen. Herausfinden, wie diese gefährlichen supersonischen Glaskochplatten funktionieren, ohne dabei von einem Stromschlag getötet zu werden.«
    »Damit willst du wohl sagen, dass du ein Ceranfeld hast«, sagte sie.
    »Das wird’s wohl sein.«
    »Das wird dich wohl kaum umbringen. Ich meine, an was arbeitest du gerade?«
    »Na, wie ich dir gesagt habe. Ich muss einen Container bestellen. Ich habe zwei Birnbäume, komme aber nicht dran, weil überall Bauschutt herumliegt.«
    »Wieso Bauschutt?«
    »Ach, ich nenne es einfach mal so. Stapelweise Dachpfannen, alle ordentlich in der Mitte durchgebrochen. Bestimmt hat ein Arbeiter pünktlich zum Feierabend den Greifer von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher