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Inferno

Inferno

Titel: Inferno
Autoren: Edward Lee
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alten Gaslampenschirme waren erhalten geblieben und mit elektrischen Birnen ausgestatten worden; fast zwei Meter hoch angebrachte Wandleuchter ließen Platz für Statuen berühmter Südstaatler wie Jefferson Davis, Lee und Pickett sowie weitere, finster dreinblickende, nicht identifizierbare Figuren. In den dreißig Zimmern des Hauses prallten die verschiedensten Klischees aufeinander und beschworen Visionen von sich Luft zufächelnden Südstaatenschönheiten neben schlecht gelaunten Räuberbaronen aus den Zwanzigerjahren.
    Und dazu fanden sich überall schwere Vorhänge, die das Innere des Hauses in Dunkelheit hüllten – genau wie Cassie es gern hatte.
    Als Wohnzimmer wurde eine Art Atrium genutzt, das alleine fast 100 Quadratmeter groß war. Exotische Teppiche bedeckten das frisch polierte Naturholzparkett. Es gab ein Studierzimmer, ein Arbeitszimmer, ein Esszimmer und auch eine Bibliothek, ganz zu schweigen von der riesigen Wohnküche, die ihr Vater mit den modernsten Gerätschaften hatte ausstatten lassen.
    Natürlich bot das Haus noch weitere Luxusgegenstände: einen Whirlpool, ein Heimkino mit 135-cm-Bildschirm, geräumige Badezimmer aus schwarzem Marmor und vieles mehr. Zu guter Letzt kam das Kellergeschoss: nicht einer, sondern eine ganze Reihe von Kellern, lange, schmale Gewölbe aus beinahe einhundertjährigem Backstein, die Decken so niedrig, dass ein groß gewachsener Mensch sich ducken musste. Der perfekte Aufbewahrungsort für die juristischen Fachbücher ihres Vaters, die er ganz offensichtlich nie wieder anzufassen gedachte.
    Ihr eigenes Badezimmer war auch ziemlich cool. Ein Messingduschkopf hing über der antiken Wanne mit den Löwenfüßen, ein Spiegel mit verziertem Holzrahmen war über einem Waschbecken mit Sockel angebracht.
    Cassie duschte sich gemächlich mit lauwarmem Wasser, dann schlenderte sie auf und ab, während sie sich anzog. Ihr Zimmer war, wie alle Räume im Haus, riesig – mit dunkler Holzvertäfelung, handgeschnitzten Verzierungen und aufwändig geprägten Deckenfliesen aus Messing und Zinn. Manchmal fühlte sie sich winzig in der Leere des Zimmers; sie hatte keine Möbel von zu Hause mitgebracht, hatte sich bewusst entschieden, mit dem wenigen Mobiliar vorlieb zu nehmen, das schon hier war. Das große Himmelbett, eine Chaiselongue aus dem vorvergangenen Jahrhundert, ein einfacher Tisch und ein Rohrstuhl, das war alles. Mehr brauchte sie nicht, und sie hatte das Angebot ihres Vaters abgelehnt, den Raum nach ihren Vorstellungen zu möblieren, wie sie auch sein Angebot abgelehnt hatte, ihr eine teure Stereoanlage zu kaufen. Ihr alter Ghettoblaster reichte völlig. Aus dem alten Haus in der Stadt hatte sie nur ihre Kleider und CDs mitgebracht.
    Mit dem Komfort, den ihr Vater ihr mühelos bieten konnte, hatte sie sich nie so recht wohl gefühlt, das war sogar jahrelang ein Streitpunkt zwischen ihnen gewesen. Die meisten ihrer Klamotten nähte sie selbst, aus Stoffresten und Altkleidern; sie hatte sich zu einer richtigen Designerin entwickelt und glaubte, das wollte sie auch werden, wenn sie erst »erwachsen« wäre, was immer das heißen mochte. Doch sie wusste, dass sie sich darum erst Gedanken machen musste, wenn sie sich wieder gefangen hatte.
    Immer noch spürte sie oft die erstickenden Schuldgefühle wegen des Selbstmords ihrer Schwester; ein Teil ihrer Seele fühlte sich wie gebrandmarkt. Seit dem Vorfall trug sie immer ein silbernes Medaillon mit Lissas Bild darin um den Hals; sie nahm es nie ab, und jeden Tag betete sie still, Bitte, Lissa, bitte verzeih mir . Die Träume hielt sie für eine Strafe, ihre persönliche Buße, doch vielleicht würde ihr eines Tages Vergebung gewährt. Hier draußen hatten sich die Träume gebessert, ebenso wie ihre Depression.
    Würde sie jemals frei sein?
    Das verdiene ich gar nicht , dachte sie.
    Manchmal begannen ihre Tage so wie heute, durchdrungen von Schuldgefühlen. Dann hasste sie sogar den Blick in den Spiegel, weil sie jedes Mal Lissa darin sah. Sie hatte ihr Haar im Nacken gerade abgeschnitten und es zitronengelb mit limonengrünen Strähnchen gefärbt, das half ein bisschen, doch ihr Gesicht war noch das alte; es war immer noch Lissa, die ihr durch die Silbermaserung des Spiegels entgegensah. Als ihr Blick zufällig auf das winzige Regenbogen-Tattoo über dem Bauchnabel fiel, musste sie sofort an das Stacheldraht-Tattoo ihrer Schwester denken.
    Verflucht , dachte sie. Nicht schon wieder . Sie war deprimiert, und es würde nur noch
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