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Inferno

Inferno

Titel: Inferno
Autoren: Edward Lee
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wegrennen.
    PENG!
    Cassie schrie auf, die Welt stürzte über ihr zusammen. Die Kugel traf Radu mitten in den Hinterkopf. Er fiel nach vorn. Innerhalb von Sekunden breitete sich fächerförmig Blut um seinen Kopf aus und umgab ihn wie einen Heiligenschein.
    Lissas rotes Gesicht wandte sich um, der Lauf der Waffe war nun auf Cassie gerichtet.
    »Es tut mir Leid, es tut mir Leid!«, schluchzte Cassie.
    »Meine eigene Schwester …« Lissas Stimme glich dem Röcheln einer Sterbenden, die Augen, mit denen sie Cassie ansah, schienen bereits tot. »Wie konntest du mir das antun?«
    Lissa setzte die Pistole an ihre eigene Schläfe.
    »Nein!« Cassie schrie wieder und stürzte sich auf ihre Schwester. Sie umklammerte Lissas Schultern, versuchte, nach der Waffe zu greifen.
    PENG!
    Lissa brach zusammen, tot, Cassie taumelte rückwärts, Gesicht und Brust voller Blut und Gehirnmasse.
    Sie fiel auf die Knie und schrie, bis sie bewusstlos wurde.

KAPITEL ZWEI

I

    Sie schoss im Bett hoch, ihr Herzschlag war dumpf, unregelmäßig. Hektisch umklammerten ihre Hände das Laken, um sich Blut und organische Masse vom Gesicht zu wischen.
    Sie zitterte, ein stiller Schrei lag auf ihren Lippen, dann fiel sie zurück auf das Kissen. Ihr Herzschlag beruhigte sich langsam; sie betrachtete das Laken.
    Kein Blut.
    Keine Gehirnmasse.
    Nur der Fluch der Erinnerung.
    Zwei lange Jahre, und noch immer suchte sie der Albtraum mindestens einmal die Woche heim. Besser als jede Nacht , sagte sie sich, wie früher, bevor sie hierher gezogen waren. Nach Lissas Selbstmord hatten sich Cassies psychische Probleme gewaltig verschlimmert; es waren nicht nur die Albträume, sondern auch ihre noch stärkere Abkapselung, zwei gescheiterte Selbstmordversuche und ein Monat in einer psychiatrischen Privatklinik, wo die Behandlung mit psychotropen Medikamenten sie zu einem taumelnden Zombie gemacht hatten. Die Narben an ihren schmalen Handgelenken waren die einzig sichtbaren Folgen. Gruppentherapie, Hypnose und Narkoanalyse hatten ebenfalls versagt. Ironischerweise war es die Idee ihres Vaters gewesen, aus alldem auszubrechen. »Zur Hölle mit all diesen ärztlichen Spinnern und ihren Pillen«, hatte er vor ein paar Monaten plötzlich gesagt. »Lass uns einfach die Stadt verlassen, dieses Haifischbecken. Vielleicht ist das die beste Medizin für uns beide.« Cassie hatte keinen Grund gehabt, zu widersprechen, und damit ließ ihr Vater, der berühmte William F. Heydon, Partner in einer der drei erfolgreichsten Anwaltskanzleien des Landes, seinen einflussreichen – und sehr lukrativen – Job mit einem knappen Kündigungsschreiben hinter sich. Die juristischen Machtzirkel in D.C. hatten das Äquivalent eines schweren epileptischen Anfalls erlebt, und ihr Vater kehrte nie in seine Firma zurück. Ganz eindeutig hatten ihm die zwei leichten Herzinfarkte und die wiederholten Angioplastien das Licht gezeigt. »Jeder Tag über der Erde ist ein guter Tag, mein Schatz«, erklärte er. »Keine Ahnung, warum ich so lange gebraucht habe, um das zu begreifen. Wir haben doch alles, was wir brauchen. Außerdem hängt mir der Chauffeur zum Hals raus, das Mittagessen im Mayflower jeden Tag hängt mir zum Hals raus, und die Redskins sind sowieso Scheiße. Wer braucht schon diese Stadt?«
    »Aber was ist mit all deinen Freunden in der Firma?«, hatte Cassie gefragt, und er hatte nur gelacht. » Freunde in einer Anwaltskanzlei – so was gibt es nicht, meine Kleine. Nur noch mehr Haie, die dich ohne mit der Wimper zu zucken auffressen würden. Ich wünschte, ich könnte miterleben, wie sie sich um den fetten Brocken streiten, den ich ihnen in den Schoß geworfen habe. Ich möchte wetten, diese Blutsauger prügeln sich sogar um meinen Schreibtischstuhl.«
    Ihr war es nur recht; Cassies eigene Unsicherheiten hatten ihr selbst jegliche wahre Freundschaft verwehrt. Wer wollte schon mit jemandem befreundet sein, der ununterbrochen von Psychopillen benebelt war? Welcher Typ wollte mit einer »Thorazin-Queen« ausgehen? Und die Gothic-Szene der Stadt war für sie gestorben.
    Sie wusste, sie könnte niemals wieder in einen Gothic-Club gehen; alles würde sie nur an Lissa erinnern.
    Der spontane Entschluss ihres Vaters hatte funktioniert. Seit dem Tag, als sie in Blackwell Hall eingezogen waren – das war vor mittlerweile einem Monat -, schienen sich ihre Emotionen auszugleichen. Der nächtliche Albtraum vom Tod ihrer Schwester kam nur noch einmal wöchentlich. Die Angst vor dem Besuch bei
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