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Inferno

Inferno

Titel: Inferno
Autoren: Edward Lee
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ihrer Psychiaterin verflüchtigte sich; sie ging einfach nicht mehr hin. Die Befreiung von den ganzen Batterien von Antidepressiva und anderen Psychopharmaka belebte sie in einem Ausmaß, das sie nicht für möglich gehalten hätte.
    Sie fühlte sich lebendiger, hatte mehr Energie als je zuvor.
    Vielleicht wird wirklich alles wieder gut , dachte sie. Vielleicht werde ich das alles überwinden und eines Tages ein richtiges Leben führen .
    Schnell lernte sie, dass man am besten einen Schritt nach dem anderen macht.
    Sie glitt aus dem hohen Himmelbett, zog die schweren Vorhänge beiseite und hielt sich sofort die Hand vor die Augen. Gleißendes Sonnenlicht drängte in ihr Zimmer. Sie öffnete die Flügeltüren und seufzte genussvoll, als die frische Luft sie sanft streichelte. Bedenkenlos stand sie nur in Unterhose und BH auf dem Balkon – Wer sollte sie schon sehen?
    In D.C. wäre das eine ganz andere Sache. Aber das hier war das flache Land. Die einzigen Zuschauer ihrer spärlichen Bekleidung waren sanfte Hügel und weit entfernte Wiesen. Die Sonne ging über den Bergen auf; Singvögel – nicht diese Müll fressenden, linkischen Tauben – flogen vom Geländer auf, als sie heraustrat.
    Es war wirklich eine fremde Umgebung: Die nächtliche Silhouette der Stadt war Cassie normalerweise lieber als in Sonnenlicht getauchte Äcker und Wälder. Aber sie wollte sich nicht beklagen. Das ruhige Landleben war es, wonach ihr Vater sich zur Erholung gesehnt hatte, und Cassie würde sich einfach daran gewöhnen müssen. Man darf eben nicht so wählerisch sein , ermahnte sie sich selbst. Immer noch schöner als der Ausblick aus dem Fenster der Psycho-Ranch .
    Zwar konnte sie die Begeisterung ihres Vaters für die Landschaft nicht ganz teilen, aber sie war hin und weg von dem Haus. Blackwell Hall, wie es genannt wurde, thronte auf einem bewaldeten Hügel über vierzig Hektar nicht genutztem Grasland. Am Fuße der Anhöhe plätscherte das Blackwell-Flüsschen, das schließlich – wer hätte das gedacht – in den Blackwell-Sumpf mündete. Als Cassie ihren Vater gefragt hatte, wer Blackwell war, hatte er mit einem Schulterzucken geantwortet: »Wen interessiert das schon? Vermutlich irgend so ein reicher Plantagenbesitzer, der hier vor dem Bürgerkrieg gelebt hat.« Seine Kanzlei hatte das Haus bei einer Eigentumsschlichtung geerbt, und seine Partner hatten es ihm mit Freuden bei seinem Abschied überlassen; dafür hatte er ihnen seine Mandantenliste ohne Gegenleistung ausgehändigt. Er hatte einfach nur weg gewollt, und die Millionen, die er im Laufe seiner Karriere angelegt hatte, warfen nun mehrere zusätzliche Millionen pro Jahr an Zinsen ab. Mit anderen Worten: Dad hatte ausgesorgt, und egal, wer oder was hier vorher zu Hause gewesen war, Blackwell Hall stellte genau die Art von Rückzugsmöglichkeit dar, die sie beide seiner Meinung nach dringend brauchten.
    An das ursprüngliche typische Südstaatenhaus war offenbar im Laufe der Zeit angebaut worden, allerdings etwas exzentrisch. Vom Winde verweht trifft auf die Addams Family , dass war ihr erster Gedanke, als sie die Bilder sah. Nicht, dass sie etwas dagegen gehabt hätte. Die Stirnseite des Originalbaus mit seinen polierten Säulen aus weißem Granit war nach Westen ausgerichtet, und darum herum war der restliche Teil dieses wundervollen Ungetüms erbaut worden: ein dreistöckiges Herrenhaus mit Mansardenfenstern, Dachboden, einem eisernen Geländer am Dach, einem Steingesims, Brüstungen und Erkern mit bunten Fenstern. Efeu rankte sich an der echten Mahagoniverkleidung empor, und große Bogenfenster komplett mit funktionstüchtigen Läden waren in die Wände des komplett aus Naturstein erbauten ersten Stockwerk eingelassen. Es gab sogar ein altes Oculus-Fenster in der mittleren Dachkammer des Anwesens.
    Dieses Haus ist so gruselig, es ist einfach GROSSARTIG! , war Cassies erster Gedanke.
    Innen war das Haus mit Anleihen am Kolonial- sowie im Edwardianischen Stil renoviert worden. Überall fanden sich Stuckdecken und mannshohe offene Kamine. Wen störte es schon, wenn die Feuerstellen neun Monate im Jahr nicht benutzt wurden? Sie sahen einfach toll aus. Die Gänge des Hauses bildeten ein faszinierendes Labyrinth, seltsame Korridore verzweigten sich in die unterschiedlichsten Richtungen, Räume führten in kleinere Räume, die wiederum in noch kleinere Räume mündeten, überall gab es stumme Diener und sogar Wandschränke, die sich hinter Bücherregalen verbargen. Die
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