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Inferno

Inferno

Titel: Inferno
Autoren: Edward Lee
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schlimmer werden, wenn sie weiter im Haus herumhing. »Ich glaube, ich gehe einfach irgendwohin«, sagte sie laut, »auch wenn man eigentlich nirgendwohin kann.«
    Sie schnappte sich ihren MP3-Player und rannte aus dem Zimmer.
    Als sie die breite Treppe hinunterlief, blickten die Statuen sie im seltsam gedämpften Gegenlicht der bunten Glasscheiben finster an. Sie schnitt ihnen im Gegenzug Grimassen und zeigte einem von ihnen den erhobenen Mittelfinger. Euch auch einen schönen Tag . Unten am Absatz quietschte ihre Hand auf dem geschnitzten Holzpfosten; sie sah ins Wohnzimmer und bemerkte, dass der Fernseher nicht lief. Dann spähte sie in die Küche, das Arbeitszimmer und auf die hintere Terrasse, doch von ihrem Vater keine Spur.
    Hmm.
    Im Foyer wischte Mrs Conner Staub. Cassies Vater hatte sie angestellt, um das Haus sauber zu halten. Sie war eine nette, stille Frau vom Land, sehr gewissenhaft. Vermutlich war sie schon über fünfzig, doch ein Leben voll harter Arbeit hatte sie gut in Form gehalten. Cassie mochte sie; anders als die anderen Einheimischen gaffte sie nie ihre schrillen Haare oder ihre düsteren Gothic-Outfits an. Allerdings war Cassie nicht so begeistert von Mrs Conners Sohn Jervis, der ein paarmal die Woche vorbeikam, um sich um den Garten zu kümmern. Jervis war ein waschechter Redneck, ein stumpfer Südstaatenprolet, und die Hälfte der Zeit betrunken. Er warf ihr anzügliche Blicke zu und grinste aufdringlich, wobei er ununterbrochen seine Red-Fox-Kautabak-Kappe zurechtrückte. Er war dick und breitschultrig und erzählte gerne an den Haaren herbeigezogene Geschichten von Mordfällen aus der Gegend, offenbar in der Hoffnung, sie in Angst und Schrecken zu versetzen. »Ich hatte’n Bruder, Tritt hieß der. Is im Wald umgebracht worden«, erzählte er einmal. »Konnte man praktisch nich mehr erkennen, als sie ihn rausgeholt haben.«
    »Und was willst du mir damit sagen?«, fragte Cassie genervt.
    »Bleib weg aus’m Wald, Kleine«, hatte Jervis geantwortet.
    Cassie lachte.
    Natürlich war es tragisch, einen Bruder zu verlieren, aber Mrs Conner hatte ihr einmal die wahre Geschichte von Tritt erzählt. »Mein Sohn Tritt war nich besonders schlau. Hat sich eines Abends eine ganze Flasche schwarzgebrannten Fusel runtergeschüttet und is dran eingegangen.«
    Jervis war zwar eine Nervensäge, aber dennoch einigermaßen erträglich.
    »Morgen, Miss«, grüßte seine Mutter sie, ohne vom Staubwischen aufzusehen.
    »Hallo, Mrs Conner. Haben Sie meinen Vater gesehen?«
    Der Staubwedel deutete auf die Tür. »Draußen vorm Haus, wollte irgendwohin. Hat aber nicht gesagt, wohin.«
    »Vielen Dank.«
    Mrs Connor war keine Frau von großen Worten.
    Cassie schritt durch die große beleuchtete Eingangstür, die flankiert war von hohen ionischen Säulen. Die feuchte Schwüle des späten Vormittags schlug ihr entgegen.
    Mein Gott! Es ist heißer hier draußen als in einem Backofen!
    Als sie die schwere Tür hinter sich schloss, blieb ihr Blick an dem merkwürdigen Klopfer in der Mitte hängen: ein angelaufenes Bronzeoval, das ein missmutiges, nur halb modelliertes Gesicht zeigte. Lediglich zwei Augen, kein Mund, keine weiteren Merkmale. Toll! , dachte Cassie.
    Hinter dem Portikus lief ihr Vater über einen gefliesten Weg.
    »Hallo, Dad!«
    Seine Hand schnellte nach oben.
    »Ciao, Dad.«
    Er drehte sich um, jetzt schon schwitzend in der Hitze, einen albernen Fischerhut in die Stirn gezogen. »Ich gehe zum Bach runter«, rief er ihr zu und fuchtelte mit seiner zusammenklappbaren Angelrute.
    »Die Rednecks pinkeln wahrscheinlich immer in den Bach«, sagte sie lachend.
    »Nee, soviel ich weiß, pinkeln die immer nur auf die Straße. Ich bringe uns einen Haufen Welse mit nach Hause.« Er hielt einen Moment inne und kratzte sich am Kopf. »Weißt du, wie man Wels zubereitet?«
    »Klar. Ich koch sie für dich, aber du musst sie ausnehmen.«
    »Kein Problem. Dann fühl ich mich wieder wie ein Anwalt. Was hast du heute Morgen vor, mein Schatz?«
    Beim Wort Schatz runzelte sie die Stirn. »Mir ist langweilig, ich glaube, ich laufe in den Ort … damit mir noch langweiliger wird.«
    Er deutete auf den Cadillac. »Nimm doch das Auto.«
    »Nein, ich möchte laufen.«
    »Aber es sind bestimmt fünfzehn Kilometer.«
    »Es sind nur fünf Kilometer, Dad. Ich möchte ein bisschen gehen. Außerdem lechzt meine zarte Städter-Konstitution nach all der stillstehenden, glühend heißen, moskitoverseuchten Landluft.«
    »Ja, es ist
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