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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor
Autoren: Robert Littell
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1. KAPITEL
    Lemuel Falk, ein russischer Chaostheoretiker auf der Flucht vor dem irdischen Chaos, fährt sich mit seinen dicken, schwieligen Fingern durch die schmutzig-aschgrauen Haare, die auch dann windzerzaust aussehen, wenn sich kein Lüftchen regt. Er lehnt die Stirn an die eiskalte Fensterscheibe, während der Zug durch den Rangierbahnhof schlingert, der Endstation entgegen; Abreisen verkraftet Lemuel ganz gut, aber Ankünfte verursachen ihm Verdauungsbeschwerden, Migräne und Stiche in der Magengegend. Ein unwahrscheinlicher Wachtraum überkommt ihn. Er ist der Große Führer und Lehrer, circa 1917. Totale von einem Zug, der im Schneckentempo in den Finnland-Bahnhof einfährt. Naheinstellung vom obersten Homo soviéticas, durch ein verregnetes Fenster; er stirbt fast vor Angst, daß man ihn lynchen oder, schlimmer noch, ignorieren könnte. Wladimir Iljitschs Nervosität überträgt sich auf Lemuel. Seine Kopfschmerzen drücken von hinten gegen Lemuels Augäpfel, seine Krämpfe zwicken Lemuels Eingeweide.
    Der Wachtraum verebbt, als Lemuels Zug am Kai anlegt. Trostlose Reklametafeln werben für billige Leihwagen, pfefferminzfrische Zahnpasta, ein glutamatfreies chinesisches Restaurant in Bahnhofsnähe; Graffiti prangern den geplanten Bau einer Atommüll-Deponie im Landkreis an; Stapel von Frachtgut mit der schablonierten Aufschrift THIS SIDE UP ziehen am Fenster vorbei. Wer entscheidet eigentlich, hier oder in irgendeinem anderen Land, welche Seite oben ist? fragt sich Lemuel. Unter ihm das Zischen der Hydraulik, das Kreischen der Bremsen. Ruckelnd kommt der Zug zum Stehen. Ein riesiger Pappkoffer droht aus der Gepäckablage zu kippen. Mit einer Behendigkeit, die man ihm nicht zutrauen würde, springt Lemuel auf, kriegt ihn noch rechtzeitig zu fassen und wuchtet ihn herunter. Draußen vor dem Fenster stampft jemand, den Lemuel augenblicklich als Homo antisovieticus identifiziert, mit den Füßen auf, um Frostbeulen vorzubeugen. Dicht hinter ihm atmen zwei Männer und zwei Frauen große Dampfwolken in die Nacht, während sie die aussteigenden Passagiere durchmustern.
    Lemuel erkennt durchaus ein Empfangskomitee, im Unterschied zu einem Lynchmob, wenn er eins sieht. Erleichtert hebt er die Pranke, um das Grüppchen durchs verregnete Fenster zu grüßen. Eine Frau im Fuchspelz ruft: »Das muß er sein«, und hält eine zellophanverpackte Fackel hoch, um ihm den Weg ins Gelobte Land zu weisen. Lemuel schultert seinen alten Tornister von der Roten Armee, packt den Pappkoffer mit der einen Hand, eine Dutyfree-Tüte mit der anderen und schlurft durch den Gang des Waggons; er erspäht das Empfangskomitee auf dem Bahnsteig im trüben Licht einer herabhängenden nackten Glühbirne. Mit seinem Gepäck kämpfend, klettert er rückwärts die Eisenstufen hinunter und dreht sich zu dem Grüppchen um.
    Der Direktor – er ist hochgewachsen, mager und asketisch und scheint mit seinem aufgeplusterten Skianorak leichter als Luft – streift einen Schafpelzfäustling ab, läßt mehrere Knöchel knacken und streckt eine eiskalte Hand aus. »Willkommen in Amerika«, erklärt er betont aufrichtig. »Willkommen im Staat New York. Willkommen am Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung.« Er würde gern lächeln, aber die Gesichtszüge sind ihm eingefroren, es wird nur ein schwaches Grinsen daraus. Seine blauen Lippen bewegen sich kaum, während er Lemuel die Hand schüttelt. »Ich freue mich sehr, daß Sie das Kommunistenpack endlich rausgelassen hat.«
    »Rausgelassen haben sie mich«, stimmt Lemuel ihm zu.
    »Um die Wahrheit zu sagen, ich hätte nie geglaubt, Sie doch noch einmal diesseits des Eisernen Vorhangs zu sehen.«
    Murmelnd gibt Lemuel zu bedenken, daß es keinen Eisernen Vorhang mehr gibt.
    Ein Schwall arktischer Luft treibt ihm die Tränen in die Augen. Die Frau im Fuchspelz streckt unvermittelt den Arm aus und hält ihm sechs in Zellophan gehüllte rote Rosen unter die Nase. »Die Russen«, klärt sie, seine Tränen mißdeutend, ihre Kollegen gerührt auf, »tragen das Herz auf dem Ärmel.«
    Bis sie verlorenging, hatte sich Lemuel anhand einer Ausbildungsvorschrift der Royal Canadian Air Force die Anfangsgründe des Englischen angeeignet. Da er sich nicht denken kann, wie es möglich sein soll, sein Herz auf dem Ärmel zu tragen, weist er das Bukett zurück. »Ich bin allegorisch«, erklärt er. Er will um jeden Preis einen guten Eindruck machen, weiß aber nicht, wie er es anstellen soll. »Ich
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