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Incognita

Incognita

Titel: Incognita
Autoren: Boris von Smercek
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zu ziehen. Doch John war zu schnell für sie. Er hüpfte von der Mauer, ohne das wilde Brombeergebüsch zu streifen, und landete mit erstaunlicher Leichtfüßigkeit auf dem harten Fels. Er konnte es selbst kaum glauben, wie einfach das gewesen war. Allerdings machte er sich nichts vor: Seine Flucht war längst nicht vorbei. Nie und nimmer würde Guiltmore so leicht aufgeben!
    John sah sich um. Caldwell Castle stand auf einem mehr oder weniger kahlen Hügel. Erst viel weiter unten, in der Senke, gab es Versteckmöglichkeiten – in einer Bauernkate, auf einem der Felder, im Wald. Doch bis dahin musste John erst einmal kommen.
    Während er überlegte, wie es nun weitergehen sollte, wanderte sein Blick vom Waldrand hinüber zum Meer. Ein dunkler, flirrender Fleck am Horizont erregte seine Aufmerksamkeit. Im Dunst über dem Wasser war es kaum mehr als eine schemenhafte Silhouette – groß, undefinierbar und irgendwie unpassend in einer Welt der Burgen und Schwerter. Doch noch bevor John sich weitere Gedanken darüber machen konnte, hörte er aus dem Innenhof Guiltmores Stimme: »Oxley, Hubbard, Chapman, Murdock – ihr umrundet die Burgmauer! Oxley und Hubbard rechts herum, Chapman und Murdock links herum! Bringt mir McNeill zurück! Er darf nicht entkommen!«
    Da John nicht warten wollte, bis die Wachen ihn in der Zange hatten, begann er mit dem Abstieg. Um es den Verfolgern so schwer wie möglich zu machen, wählte er den direkten Weg nach unten, denn im unwegsamen Gelände hatte er mit seiner leichten Kutte noch immer einen Vorteil gegenüber den schwerfälligeren Wachen. Außerdem behinderten ihn jetzt die Würstchen nicht mehr.
    Der grobe Fels bot viel Halt, John kam schnell vorwärts. Irgendwo über sich hörte er die Wachen schreien, wohl weil sie ihn entdeckt hatten. Aber sein Vorsprung war mittlerweile so groß, dass er sich einigermaßen sicher fühlte.
    Als er am Fuß des Hügels ankam, hielt er einen Moment inne, um durchzuatmen. Mit seiner Kondition war es nicht mehr allzu weit her. Er beugte sich vornüber, schnappte nach Luft.
    Plötzlich vernahm er ein leises, beinahe bedrohlich wirkendes Knattern – nicht von der Burg, sondern vom Meer her. Er sah in Richtung Steilküste und erkannte, dass der dunkle Fleck über dem Meeresspiegel jetzt deutlich größer war als zuvor. Offensichtlich kam er geradewegs auf die Insel zugeflogen, doch noch immer konnte John in der dunstigen Luft über dem Ozean keine exakten Umrisse erkennen.
    Zum Knattern der flirrenden Silhouette gesellte sich ein anderes Geräusch, das John ablenkte: Hufschlag. John warf einen Blick über die Schulter. Guiltmore und ein paar seiner Ritter verfolgten ihn zu Pferde. Sie hatten das Burgtor längst hinter sich gelassen und preschten in vollem Galopp den Hügel hinab. Da die Pferde den Spiralweg nehmen mussten, blieb John ein deutlicher Vorsprung, aber er wusste, dass er keine Sekunde mehr zögern durfte, wenn er sich in Sicherheit bringen wollte.
    Die Reiter verschwanden hinter dem Hügel, sodass John sie vorübergehend aus den Augen verlor. Er überlegte. Die nächstgelegenen Verstecke waren die Bauernhäuser. Wenn die Verfolger ihn dort jedoch fanden, saß er in der Falle. Der Wald war zwar sicherer, allerdings zwei Kilometer entfernt – viel zu weit, wenn man eine Horde Reiter im Genick hatte. Dann fiel John ein, dass sich ganz in der Nähe ein See befand. Im dichten Schilf, das dort mannshoch wucherte, konnte er Unterschlupf finden, bis Guiltmore und seine Mannen die Suche aufgaben.
    Er rannte los. Die Anstrengung trieb ihm den Schweiß aus allen Poren, und er fühlte das Herz in seiner Brust hämmern. Mit jedem Schritt hörte er sein eigenes Keuchen lauter. Während seine Beine träger wurden und ihm das Atmen immer schwerer fiel, wurde ihm mit einem Mal bewusst, wie schwach und ausgelaugt er tatsächlich war. Der Nahrungsmangel der letzten zwei Wochen forderte seinen Tribut. John trieb sich dazu an, schneller zu laufen, doch sein Körper gehorchte nicht länger seinem Willen. Plötzlich wusste er, dass er es nie und nimmer rechtzeitig bis zum See schaffen würde. Nur noch zweihundert Meter – so nah und dennoch unerreichbar weit weg!
    Er blieb stehen, um zu verschnaufen, und schaute sich um. Die Verfolger – keine unbeholfenen Wachsoldaten, sondern erfahrene Reiter – preschten über die saftig grüne Wiese heran. Ihre blank polierten Helme und Brustpanzer, ja sogar die Klingen ihrer Waffen blinkten und blitzten im
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