Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Incognita

Incognita

Titel: Incognita
Autoren: Boris von Smercek
Vom Netzwerk:
an der unfertigen Mauer entlang, die an manchen Stellen erst knappe drei Meter hoch war. Dort hinauf zog es John. Von der Mauerkrone aus wollte er nach einer geeigneten Stelle für einen Sprung ins Freie suchen.
    Hinter ihm ertönten aufgebrachte Schreie. Er warf einen Blick über die Schulter und sah, dass zwei der Wachen bereits das Gerüst erreicht hatten. Ihre Bewegungen wirkten schwerfällig, dennoch erklommen sie das Gerüst ohne nennenswerte Probleme. Mit erhobenen Schwertern kamen sie auf ihn zugelaufen.
    John wollte seinen Weg fortsetzen, musste jedoch erkennen, dass ein weiterer Wachposten unmittelbar vor ihm stand. Gott allein wusste, woher der auf einmal gekommen war. Auch er hatte sein Schwert drohend erhoben – an ihm war kein Vorbeikommen.
    Ich muss weiter nach oben, dachte John. So schnell wie möglich hinauf auf die Mauer!
    Kurzerhand hielt er sich an einem Pfahl fest und hüpfte auf eine Querstrebe. Da er die zweite Hand benötigte, um die Würste festzuhalten, geriet seine Artistennummer zum Balanceakt. Dann fand er jedoch sein Gleichgewicht wieder, drückte sich ab und schwang sich auf die nächsthöhere Ebene. Er staunte über sich selbst, wie leicht ihm das Klettern fiel.
    Gut zweieinhalb Meter über der Erde wirkte das Gerüst nicht mehr ganz so stabil wie von unten. Die Bretter knarzten verdächtig, und bei jedem von Johns Schritten wackelte die Konstruktion bedenklich. Nur die Burgmauer zu seiner Linken gab ihm ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Auf dieser Seite konnte er wenigstens nicht herunterfallen.
    Einer der Wachposten versuchte, John hinterherzuklettern. Ein anderer stieß von unten sein Schwert durch die Lücken zwischen den Bodenbrettern. Die Klinge war so stumpf, dass man damit nicht einmal ein Stück Butter hätte durchtrennen können, aber als Stolperfalle eignete sie sich allemal. John hüpfte mit einem großen Satz über die zuckende Schwertspitze und rannte weiter. Jetzt war es nicht mehr weit bis zu der Stelle, die er für seine Flucht ausgewählt hatte.
    Rasch kletterte er noch eine Ebene höher, sodass er sich jetzt ganz oben auf dem Gerüst befand. Fürs Erste bin ich in Sicherheit, dachte er.
    Weit und breit sah er keine Wache, nur ein paar Maurer hielten sich hier auf. Abgelenkt durch den Tumult, hatten sie ihre Arbeit eingestellt. Nun beäugten sie John wie ein Kuriosum. »Hier herumzuklettern ist gefährlich!«, rief einer. »Das Gerüst ist nicht für Raufereien gemacht!«
    Da hatten sie wohl recht, aber John war nun einmal nicht in der Situation, sich seinen Fluchtweg aussuchen zu können.
    »Ihr Maurer, haltet den Mann!« Die donnernde Stimme kam von unten. Natürlich Guiltmore, wer sonst? »Im Namen des Herrn! Haltet den Mann, sonst werdet ihr euch im Kerker wiederfinden!«
    Die deutlichen Worte zeigten Wirkung. Die Arbeiter – drei an der Zahl – postierten sich wie eine Wand vor John. Mehr noch, sie bewegten sich auf ihn zu! Und diese Kerle sahen ziemlich kräftig aus.
    John machte kehrt, um in die andere Richtung zu rennen, stellte jedoch fest, dass das Gerüst in dieser Richtung an der Wand des Ostturms endete. Er befand sich in einer Sackgasse. Wieder drehte er sich um. Die drei Maurer kamen immer näher.
    John warf einen raschen Blick nach oben, aber von hier aus konnte er die Mauer unmöglich überwinden. Viel zu hoch! Er hatte nur noch eine Chance: bluffen.
    Aus voller Kehle schreiend rannte er auf die Maurer zu. Dabei fuchtelte er mit seiner freien Hand, als habe er einen Dolch umklammert. Tatsächlich gelang es ihm, die drei Arbeiter zu verunsichern. Sie blieben stehen und hoben die Fäuste, um den Angriff abzuwehren. Doch noch bevor John die Männer erreichte, hielt er abrupt inne, stieß sich von dem Gerüst ab und krallte sich mit beiden Händen an der oberen, noch unfertigen Mauerkante fest.
    Sein Brustkorb schlug hart gegen den Steinwall – dieses Manöver würde ihm gewiss einige blaue Flecken bescheren. Mehr noch als der Aufprall schmerzte ihn jedoch der Verlust seines Abendessens, denn während er sich keuchend und strampelnd zur Mauerkrone emporarbeitete, fühlte er, wie die so hart erkämpften Würste unter seiner Kutte an ihm herabrutschten und zwischen Mauer und Gerüst auf die Erde fielen.
    Alles umsonst! Es war zum Verzweifeln.
    Aber ihm blieb keine Zeit, den Verlust zu betrauern, denn schon waren die drei Arbeiter bei ihm. Mit erhobenen Händen grapschten sie nach seinen Beinen, um ihn zu fassen zu bekommen und wieder aufs Gerüst
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher