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An einem Tag im Januar

An einem Tag im Januar

Titel: An einem Tag im Januar
Autoren: Christopher Coake
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EINS
    Jemand beobachtete ihn.
    Mark Fife saß in einem Coffee Shop, als er es merkte, in einem dicken, breiten Sessel mit dem Rücken zum Fenster, drei Straßen von dem Stadthaus entfernt, in dem er mit seiner Freundin Allison wohnte. Es war ein Wochentag, recht früh noch; ganz Ohio war unter einer Neuschneedecke aufgewacht, und Mark und Allie hatten spontan einen Morgenspaziergang gemacht, der hier geendet hatte. Jetzt, kurz vor Beginn der Stoßzeit, war das Cup O’Joe voll und laut, die Luft warm und feucht von dem Schnee, der von zig Paar Stiefeln abtaute. Allison war zur Toilette gegangen, und Mark wartete und blätterte so lange müßig im Dispatch , als er plötzlich dieses Kribbeln im Nacken spürte, einen leisen Schauder, als würde ihm eine Geliebte verstohlen mit der Nagelspitze über die kurzen Härchen dort fahren.
    Er hob den Blick von der Zeitung und schaute in dem Laden umher, aber niemand sah in seine Richtung. Dann drehte er sich auf seinem Stuhl um und erschrak wieder: Eine Frau – eine Fremde – starrte durchs Fenster zu ihm herein.
    Die Frau war älter als er, vielleicht Mitte vierzig. Ihr Gesicht war rund, unnatürlich braun für Dezember, und mit einem silbrigen Schal umwickelt; die Haare, die daraus hervorsahen, waren wuschelig und tiefdunkel. Ihre Augen waren geweitet; sie schien überrascht, ihn zu sehen, auf eine Art, die keine angenehmen Erinnerungen in ihm weckte.
    Am liebsten hätte er sie gar nicht beachtet, doch dafür benahm sich die Frau zu seltsam – zu hektisch und nervös. Ihr Mund stand offen, ihre Hände in den Fingerhandschuhen krampften sich ineinander. Nein, sie sah nicht einfach nur überrascht aus: Sie fürchtete sich.
    Unwillkürlich hob er die Hand, und sie zuckte zusammen, als hätte er eine Waffe auf sie gerichtet.
    Hatte sie wirklich vor ihm Angst? Er sah wieder durch den Raum, aber die einzige andere Person in Blickrichtung der Frau war eine blonde Studentin, die in ein Wolltuch gehüllt auf einer Couch saß und mit gerunzelter Stirn in einem Lehrbuch las.
    Als Mark sich zurück zum Fenster wandte, war die Frau verschwunden.
    Er stand auf, sah hinaus auf den Gehsteig. Es herrschte ein ziemliches Gedränge dort draußen – wohl ein Dutzend Menschen, die sich begrüßten und verabschiedeten, aus Autos aus- und in Autos einstiegen, alle in dunklen Mänteln, alle mit Dampfwölkchen vor dem Gesicht. Der silbrige Schal, diese Haare – er suchte danach, fand sie nicht. Die Frau war fort.
    Er ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen und versuchte sie einzuordnen, ohne Erfolg. Er sagte sich, dass sie sich geirrt haben musste. Sie hatte ihn mit jemandem verwechselt. Oder vielleicht war sie einfach eine Verrückte, von denen es hier in Columbus mehr als genug gab. Trotzdem hatte ihr Auftauchen und Verschwinden etwas Verstörendes für Mark – es passte zu gut in das restliche Auf und Ab dieses Morgens.
    Vor nicht ganz einer Dreiviertelstunde hatte Allison ihn aus einem seiner Endlos-Alpträume geweckt – der Druck ihrer Finger in seinem Haar so sacht, so unwirklich wie das Gefühl, das der Blick der fremden Frau in ihm ausgelöst hatte.
    Es hat geschneit, sagte Allie, als er die Augen aufschlug. Schnell, schau!
    Mark hatte von seinem Sohn Brendan geträumt, der schon vor Jahren gestorben war, an einem kalten Tag im Januar, nur wenige Wochen nach seinem siebten Geburtstag. Der Traum war ein Feind, dessen Taktiken lange bekannt und vertraut waren. Mark und Brendans Mutter – Marks Exfrau Chloe – bewohnten darin noch ihr altes Ziegelhaus im Victorian Village, einmal quer durch die Stadt. In dem Traum war das verschachtelte Bauwerk zum Labyrinth geworden: Die beiden Stockwerke waren vertauscht, neue Korridore verliefen sich in den Schatten, Türen lagen plötzlich unter Putz. Brendan lebte noch, er rannte vor ihnen weg, lachend und nach ihnen rufend, immer außer Sicht, aber in diesem seltsamen ungewohnten Haus konnten sie ihn nicht einholen, ihm nicht sagen, sei vorsichtig, warte auf uns, langsam auf der Treppe.
    Und dann war Mark plötzlich wach, sieben Jahre waren vergangen, und statt in Chloes tränenverschmiertes, panikerfülltes Gesicht sah er in das von Allison, die sich über ihn beugte, ihre dunklen Augen funkelnd vor Freude über den Schnee.
    Allie hatte in Südkalifornien gelebt, bis sie acht war, und selbst nach zwei Jahrzehnten Cleveland und Columbus war Schnee immer noch etwas Aufregendes für sie, ein Geschenk. Ohio kann noch so öde sein, sagte sie gern,
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