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Incognita

Incognita

Titel: Incognita
Autoren: Boris von Smercek
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sich später den Bauch damit vollschlagen würde, bekam er einen unbändigen Appetit. Er hatte es tatsächlich geschafft! Er hatte zum ersten Mal in seinem Leben etwas gestohlen!
    Ein erneuter Seitenblick zeigte ihm, dass der Metzger tatsächlich nichts bemerkt hatte. Doch erleichtert durchzuatmen wäre verfrüht gewesen, denn die Augen der dicken Stallknechtsgattin richteten sich geradewegs auf ihn. Gleichzeitig lief ihr Gesicht puterrot an, während ihre rosigen Wangen gefährlich zu zittern begannen. Schon begann sie, wie am Spieß zu schreien. »Dieb!«, krakeelte sie. »Gemeiner Dieb!«
    Die Schrecksekunde lähmte John. Die Aussicht, wieder ins Verlies geworfen zu werden, ließ ihn schaudern. Vielleicht würde Guiltmore sich für ihn sogar eine noch härtere Strafe ausdenken, immerhin ging es nicht nur um ein paar Würste, sondern auch darum, dass er die Verbannung missachtet hatte und nach Caldwell Castle zurückgekehrt war. Eher zufällig fiel Johns Blick auf den Richtbock, der im Zentrum des Burghofs, zwischen Brunnen und Bergfried stand. Das Henkersbeil steckte tief im Holz, der Schaft der Waffe ragte schräg in die Höhe. John schluckte. Zwar wusste er, dass Guiltmore ihm weder den Kopf noch ein anderes Körperteil abschlagen lassen würde, dennoch bereitete ihm die pure Vorstellung Unbehagen.
    Die kreischende Frau riss ihn aus seinen Gedanken. »Dieb! Halunke! Schurke!«, rief sie und deutete mit dem Finger auf ihn. »Der da! Der in der Kutte! Lasst ihn nicht entkommen!« John spürte, wie sich sämtliche Augen auf ihn richteten. Er musste sich beeilen, wenn er Guiltmore nicht in die Hände fallen wollte.
    Hastig sah er sich um. Folsey und die anderen Umstehenden wirkten unentschlossen, möglicherweise waren sie auch eingeschüchtert von Johns Körpergröße. Jedenfalls schien von ihnen keine Gefahr auszugehen. Doch von den Stallungen her rannten bereits ein paar Burgwachen herbei. Unter ihren blauen, mit goldenen Adlern verzierten Tuniken – dem Wappen von Caldwell Castle – trugen sie knielange Kettenhemden, die bei jedem Schritt gefährlich rasselten. An ihren Hüften baumelten lange Schwerter, und ihre Gesichter waren zu grimmigen Grimassen verzogen – John konnte sie unter den offenen Helmen deutlich erkennen.
    Dennoch wirkten die Wachen erstaunlich harmlos. Einem von ihnen rutschte ständig das Visier über die Augen, ein anderer mühte sich vergeblich, sein eingeklemmtes Schwert aus der Scheide zu ziehen. Als er mit Gewalt daran riss, geriet er ins Wanken und stürzte. Das unbeholfene Schauspiel brachte John beinahe zum Lachen.
    Die drei Wachen, die soeben vom Nordturm heruntereilten, gaben kein besseres Bild ab. Sie wirkten so schmächtig, als würden sie jeden Augenblick unter der Last ihrer Kettenhemden zusammenbrechen. Selbst die mit Pfeil und Bogen ausgestatteten Wachen auf dem Wehrgang konnten John nicht schrecken. Sie handhabten ihre Waffen so ungeschickt, als hätten sie noch nie auch nur eine Zielscheibe getroffen.
    Für die meisten von ihnen stimmt das sogar, dachte John. Noch bis vor wenigen Wochen haben sie ganz gewöhnliche Berufe ausgeübt. Wie sollen sie da plötzlich mit Schwertern und Pfeil und Bogen umgehen können?
    Er gestattete sich ein Lächeln. Die Unbeholfenheit der Burgwachen gab ihm Zuversicht. Obwohl er ausgehungert und geschwächt war, musste es schon mit dem Teufel zugehen, wenn er nicht mit den ergatterten Würsten entkommen würde.
    Plötzlich spürte er einen derben Schlag im Rücken, taumelte nach vorne und drohte zu stürzen. Er konnte sich gerade noch rechtzeitig fangen und fuhr herum. Vor ihm stand ein junger Bursche, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Als er John McNeills Gesicht unter der Kapuze erkannte, erschrak er sichtlich und wich, eine Entschuldigung murmelnd, zurück.
    »Ich wusste nicht … es tut mir leid.«
    Johns Rücken schmerzte. Drohend hob er den Zeigefinger. »Künftig nicht mehr so grob, mein Junge!«, brummte er. »Sonst lasse ich dich von der Insel werfen, haben wir uns verstanden?«
    Der Bursche nickte betroffen. »Ja, Sir.«
    »Gut – und jetzt Schwamm drüber.«
    Die klirrenden Kettenhemden kamen näher. John erkannte, dass die Wachen versuchten, ihn von mehreren Seiten einzukesseln. Ganz so unbeholfen, wie sie auf den ersten Blick schienen, waren sie also doch nicht!
    Vermutlich hat Guiltmore während meiner Verbannung mit ihnen geübt, dachte John. Jetzt aber nichts wie weg!
    Da der Zugang zum Vorhof bereits versperrt
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