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Incognita

Incognita

Titel: Incognita
Autoren: Boris von Smercek
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war, schied der direkte Rückzug aus. Also musste er auf Umwegen eine Fluchtmöglichkeit aus der Burg finden. Ihm kam eine Idee: Wenn es ihm gelänge, ins Hauptgebäude einzudringen, könnte er seine Verfolger gewiss abschütteln. Niemand kannte sich besser in dem großen Haus aus als er. Ganz unten befanden sich die Lagerräume und der Weinkeller, darüber die Küche und das Bad und darüber wiederum der Rittersaal, in dem tagsüber wichtige Geschäfte besprochen oder Urteile gefällt und abends die ausgelassensten Feste gefeiert wurden. Über dem Rittersaal war die Kemenate, der einzige beheizbare Wohnraum, daneben das Schlafgemach mit einem herrlich bequemen Himmelbett, in dem er bis vor zwei Wochen die Nächte verbracht hatte. Unmittelbar unter dem Dach befand sich die Trockenbühne. Es gab so viele Zimmer mit so vielen Nischen und Winkeln und anderen Versteckmöglichkeiten – der perfekte Zufluchtsort! Das einzige Problem bestand darin, dass im Rittersaal vermutlich Guiltmore mitsamt seiner Anhängerschaft tagte. Im Hauptgebäude Unterschlupf zu suchen hieß also gleichzeitig, sich in die Höhle des Löwen zu begeben. Aber im Augenblick fiel John nichts Besseres ein. Wenn es ihm irgendwie gelänge, die zweite Etage zu erreichen, konnte er von dort aus über den Wehrgang zum Burgtor gelangen.
    Er rannte los, die Schweinswürstchen fest an den Körper gepresst, um sie auch ja nicht zu verlieren. Hinter ihm raunte die Menge, die dicke Frau schrie noch immer, und nun erschallte auch die kräftige Stimme des Metzgers quer über den Burghof: »Haltet den Bastard! Er hat mich bestohlen!«
    John rannte weiter, um den Bergfried herum auf das Haupthaus zu. Brunnen und Richtbock hinter sich lassend, stürmte er geradewegs auf die Treppe zu, die zum Eingang des Hauptgebäudes führte.
    Nur noch ein paar Meter, dachte John erleichtert. Das schaffe ich!
    Er hatte gerade seinen Fuß auf die unterste Steinstufe gesetzt, als er mitten in der Bewegung erstarrte: Über ihm wurde die eisenbeschlagene Eichentür mit lautem Poltern aufgestoßen, und heraus trat kein Geringerer als Brian Guiltmore in Person. Er war ein kräftiger, hochgewachsener Mann mit den scharfen Gesichtszügen eines Habichts. Sein eingekerbtes Kinn und die stechenden Augen verliehen seinem Äußeren zusätzliche Autorität. Auch er trug ein Kettenhemd und darüber die blaue Tunika von Caldwell Castle, doch im Gegensatz zu den Wachen wirkte er darin alles andere als lächerlich.
    »Was soll der Krach auf meiner Burg?«, dröhnte er über den Burghof, als sei es völlig selbstverständlich, dass dies seine Burg war. Erst jetzt erkannte er John am Treppensockel. Sofort schnellte seine Hand zum Schwertschaft. »Hierher!«, brüllte er seinen Leuten zu. »Zu mir! Es ist McNeill!«
    John versuchte, die Lage zu erfassen. Seinen Plan, die Verfolger im Haupthaus abzuhängen, musste er verwerfen, denn Guiltmore versperrte die Tür, und einen anderen Eingang gab es nicht. Die Kelleröffnungen schieden aus, weil sie vergittert waren. Die Fenster lagen zu hoch – unerreichbar, wenn man nicht gerade ein Kletterkünstler war. John drehte sich um. Mehrere Wachposten eilten in kleinen Grüppchen auf ihn zu.
    In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Wenn ich versuche, zwischen ihnen hindurchzuschlüpfen, werden sie mich mit Sicherheit schnappen, dachte er. Zwar fehlt es ihnen an Kampferfahrung, aber sie sind in der Überzahl. Außerdem bin ich völlig unbewaffnet.
    Ein ächzendes Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit. Sein Blick fiel auf die Bauarbeiten rund um den Ostturm, wo ein schwerer Steinquader an einer Seilwinde emporgezogen wurde. Die Bauarbeiten! Das war die rettende Idee! Dort gab es ein Holzgerüst, das beinahe ebenso gut zum Klettern geeignet schien wie eine Leiter.
    Ohne weiter darüber nachzudenken, spurtete John drauflos. Hinter ihm brüllte Guiltmore Befehle. Wieder klirrten Kettenhemden und Schwerter, doch diesmal war John sicher, die Flucht zu schaffen. In seiner Kutte war er viel beweglicher als die Wachen. Behindert wurde er nur durch die Schweinswürstchen, die er auch beim Klettern nicht verlieren wollte.
    Er erreichte die Baustelle, schwang sich auf die unterste Ebene des Baugerüsts, kam auf die Beine und rannte weiter. Unter seinen Stiefeln polterten die Bretter, von weiter oben rieselte ihm Staub ins Gesicht. John musste husten, zwang sich jedoch weiterzulaufen. Bereits nach wenigen Schritten hatte er den Ostturm umrundet. Hier führte das Gerüst
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