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Incognita

Incognita

Titel: Incognita
Autoren: Boris von Smercek
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mittlerweile puterrot. »Lass mich los, dann erkläre ich es dir.«
    John ließ von ihm ab. »Ich hoffe für dich, dass deine Erklärung gut ist, sonst garantiere ich für nichts!«
    Gordon hustete, fing sich aber gleich wieder. »Im Grunde kennst du die Geschichte. Laura und ich hatten damals diese kurze Affäre. Du kamst dahinter, und noch am selben Tag ging unsere Freundschaft in die Brüche. Das ist alles. Ich habe sie seit damals nicht mehr gesehen oder mit ihr gesprochen – bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich dich wegen meines Projekts besuchen wollte, du aber auf Caldwell Island warst. Ich habe ihr von meiner Arbeit erzählt und sie ins Labor eingeladen. Ich schwöre, das war alles, John. Dass ich das Muttermal und ihr – nun, nennen wir es Liebesvokabular – in die Simulation einprogrammiert habe, sollte wohl so etwas sein wie eine späte Rache, weil du mir damals Laura genommen und unsere Freundschaft quittiert hast.«
    John blickte Gordon starr in die Augen. Also hatte er all die Jahre recht gehabt. Seine Frau war eine Affäre mit seinem besten Freund eingegangen, wenn auch nur für kurze Zeit. Obwohl es schon eine Ewigkeit her war, fühlte er sich jetzt, da er es definitiv wusste, als sei er erst gestern betrogen worden. Wortlos wandte er sich von Gordon ab und stieg wieder in den Wagen ein.
    »Fahren Sie los, Dwight«, murmelte er.
    »Wohin, Sir?«
    »Egal wohin. Fahren Sie einfach drauflos.«
    Es war bereits halb sieben, als sie aus der Tiefgarage hinaus ins Freie fuhren. Die Sonne neigte sich allmählich zum Horizont und überflutete den Himmel mit verschwenderischem Goldgelb. Ein Abend, wie er schöner nicht hätte sein können.
    Sie verließen das Industrieviertel in Catford und fuhren in nördlicher Richtung zurück nach London. John bekam von der Fahrt nur wenig mit. Zwar hatte er den Blick aus dem Fenster gerichtet, doch er war tief in Gedanken versunken. Die Stadt rauschte an ihm vorbei wie in einem Film, dem er keine Beachtung schenkte.
    Noch bevor sie den Millennium Dome erreichten, bogen sie nach Westen ab und fuhren am Südufer der Themse entlang in Richtung Stadtzentrum, wo der Feierabendverkehr rasch dichter wurde. Kurz nachdem sie die Westminster Bridge passiert hatten, geriet der Verkehrsstrom komplett ins Stocken. Der allabendliche Pendler-Wahnsinn.
    John bedankte sich bei Dwight und stieg aus. Von hier aus waren es nur noch ein paar Häuserblocks bis nach Hause, doch schon nach wenigen Schritten verspürte er das dringende Bedürfnis, mit seiner Stadt auf Tuchfühlung zu gehen, sich in die Menschenmenge zu stürzen, den geschäftigen Lärm in sich aufzusaugen, das Londoner Leben zu atmen – das echte Londoner Leben. Also schlug er einen Umweg ein und lief kreuz und quer durch die Straßen.
    Nach einer Weile kam er am St. Jame's Park vorbei und beschloss, einen Abstecher ins Grüne zu machen. Die Motorengeräusche drangen nur noch gedämpft bis hierher, es herrschte eine geradezu paradiesische Idylle. Menschen aller Nationen bummelten über die hübsch angelegten Wege, andere ruhten sich auf den Sitzbänken im Schatten der Bäume aus, und wieder andere zogen es vor, auf dem Rasen zu liegen und die wärmende Sonne zu genießen.
    John bemerkte plötzlich, dass er einfach nur dastand und das friedliche Bild betrachtete. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass diese gediegene Langeweile ihn einmal glücklich machen würde. Überschattet wurde seine Freude nur von der Tatsache, dass Laura und Gordon ihn betrogen hatten. Vor allem war er enttäuscht, dass Laura ihm die ganze Zeit über nichts gesagt hatte. Weshalb hatte sie ihm nicht einfach die Wahrheit erzählt? Wusste sie nicht, wie sehr er sie liebte? Gleichzeitig war ihm klar, dass er ihr auch diesen Fehler verzeihen würde. Sie war ihm wichtiger als alles andere, das war ihm in jenem Moment bewusst geworden, als er sie für tot gehalten hatte.
    Wieder wanderte sein Blick durch die Parkanlage, und während er die Fußgänger und Fahrradfahrer, die Skateboarder, die Jogger, die Walker, die Mütter mit Kindern, die spazierenden Alten und die vielen Händchen haltenden Liebespärchen beobachtete, kam ihm plötzlich ein seltsamer Gedanke: Woher nahm er überhaupt die Gewissheit, dass er sich tatsächlich wieder in seiner alten Welt befand? Gordons Erklärung einer schlichten Computersimulation klang zwar plausibel, aber ebenso gut war es doch möglich, dass er tatsächlich das Multiversum bereist hatte und jetzt wieder nur in
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