Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Incognita

Incognita

Titel: Incognita
Autoren: Boris von Smercek
Vom Netzwerk:
herstellte, wusste er nicht. Eine Schweinshaxe oder eine große, fettige Bratwurst – das und nichts anderes schwebte ihm vor.
    Johns Blick wanderte weiter. Hier und da waren Bauern mit der Feldarbeit beschäftigt. Ein paar von ihnen brachten die Ernte ein, andere trieben ihre Ochsengespanne an, um den Boden für die neue Aussaat zu pflügen. Ihre Häuser – schmucklose Bretterhütten, kaum luxuriöser als John McNeills Waldhöhle – reihten sich entlang der Felder am gegenüberliegenden Rand der Senke. Dahinter ragte eine langgezogene, felsige Hügelkuppe aus dem Boden, die größte Erhebung weit und breit. Und dort oben, am höchsten Punkt, reckte Caldwell Castle seine trutzigen Zinnen in den Himmel.
    Von weitem wirkte die Burg nicht besonders imposant, und verglichen mit den meisten anderen Befestigungsanlagen Englands war Caldwell Castle auch ziemlich klein. Noch dazu befanden sich Teile davon im Wiederaufbau – der Ostturm zum Beispiel und ein Großteil des daran angrenzenden Außenwalls. Dort, wo künftig festes Mauerwerk stehen sollte, befanden sich im Moment nur Holzgerüste für die Arbeiter. Alles in allem machte die Anlage einen unfertigen und eher bemitleidenswerten Eindruck. In ihrem momentanen Zustand hätte sie einem feindlichen Angriff keinen Tag lang standgehalten. Dennoch wurde John beim Anblick von Caldwell Castle warm ums Herz.
    Ich werde mir mein Eigentum zurückholen!, schwor er sich. Voller Zuversicht machte er sich auf den Weg. Die morgendlichen Regenwolken hatten sich mittlerweile verzogen. Über den strahlend blauen Himmel verteilten sich nur noch vereinzelt weiße Tupfen. Lediglich entlang des Horizonts zog sich noch das stahlgraue Band der Regenfront.
    Gemächlich schlenderte John über eine blühende Wiese mit kniehohem Gras den Abhang hinab. Von überall her hörte er das Zwitschern der Vögel und das Zirpen der Insekten, vermischt mit den Liedern der Bauern, die von den Feldern zu ihm herüberdrangen. Auch das gedämpfte Rauschen des Meeres drang an sein Ohr – die Küste war nicht weit entfernt.
    John ließ seinen Blick schweifen und nahm einen tiefen Atemzug. Zarter Blütenduft verband sich mit dem würzigen Aroma von Salzwasser. Gott, wie er dieses Land liebte! Trotz der widrigen Umstände, in denen er sich befand, genoss er das Gefühl der Freiheit und des Abenteuers.
    John wusste, dass er sich verkleiden musste, um in die Burg eingelassen zu werden. Ein Mann in feinen Kleidern, jedoch verdreckt von Kopf bis Fuß – allein der Anblick musste Argwohn erregen. Darüber hinaus war John als Besitzer von Caldwell Castle beinahe jedem in dieser Gegend bekannt. Und selbst wenn die Nachricht von seiner Verbannung noch nicht bis zum letzten Bauern vorgedrungen sein mochte – die Burgwachen wussten garantiert Bescheid. Falls sie ihn erwischten, würden sie nicht zögern, ihn festzunehmen und ihn Guiltmore vorzustellen. Sir Guiltmore, wie er sich jetzt nannte. Der Mann, der John McNeill gestürzt und aus der Burg vertrieben hatte.
    In einer leer stehenden Bauernhütte fand John eine zerlumpte Regenkutte aus derbem Leinen. Da sie auch mit einer Kapuze ausgestattet war, ähnelte sie einem Mönchsgewand – genau das, was John brauchte. Damit konnte er nicht nur seine Kleidung kaschieren, sondern auch sein Gesicht. Die perfekte Tarnung.
    Der Aufstieg zur Burg führte links um den Hügel herum, ganz nach bewährter Verteidigungsmanier: Angreifer trugen ihr Schwert meist zur Rechten, während sie den Wappenschild links führten. Daher konnten die Verteidiger auf der Burg sie bei einem linksläufigen Weg leichter attackieren.
    Gemeinsam mit den Bauern und Händlern, die ebenfalls zur Burg hinaufwollten, setzte er seinen Marsch fort. Um seine Identität nicht preiszugeben, mied John das Gespräch mit ihnen. Er zog sich seine Kapuze tief ins Gesicht und trottete unauffällig neben ihnen her.
    Oben, vor der Burg, herrschte reges Treiben, denn eine Gruppe Gaukler gab Kunststücke zum Besten. Umringt von Schaulustigen, musizierten, tanzten und jonglierten sie. Auch ein Feuerspucker war unter ihnen.
    John McNeill schenkte ihnen jedoch kaum Beachtung. Ihn zog es wie viele andere direkt in die Burg, denn heute war Markttag. Bauern und Händler strömten auf das Haupttor zu. Nur wenige besaßen einen eigenen Ochsenkarren, mit dem sie ihre Waren transportieren konnten. Die meisten von ihnen trugen prall gefüllte Säcke und Bündel auf ihren Rücken, andere hatten ihre Lasten in geflochtenen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher