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Incognita

Incognita

Titel: Incognita
Autoren: Boris von Smercek
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Körben untergebracht. Die Schinderei war ihnen deutlich anzusehen, doch niemand beklagte sich.
    John folgte dem Pulk und passierte das aus massiven Eichenbohlen bestehende Burgtor. Sein Blick fiel auf die Pechnase über ihm – ein Erker, von dem aus im Angriffsfall heißes Öl, Wasser oder eben Pech ausgeschüttet werden konnte. In Zeiten des Friedens diente sie lediglich dazu, dass die Wache in der Nacht mit Außenstehenden sprechen konnte.
    Er schritt unter dem Fallgitter hindurch, durchquerte das Turmhaus und den Vorhof und betrat endlich die eigentliche Burg. Unmittelbar vor ihm tat sich ein einziger, weiter Platz mit quadratischem Grundriss auf, auf dem es von Menschen nur so wimmelte. Einige von ihnen arbeiteten an dem unfertigen Ostturm und der daran angrenzenden Mauer. Sie mischten Mörtel an, bearbeiteten Steinquader mit Hammer und Meißel oder zimmerten Balken für Wehrgänge und Hürden – hölzerne, mit Schießscharten versehene Vorbauten vor den Burgzinnen. Obwohl die Handwerker mit Fleiß bei der Sache waren, wunderte sich John, wie langsam die Arbeiten voranschritten. Seit er die Burg vor zwei Wochen verlassen hatte, schien sich kaum etwas getan zu haben.
    Er seufzte. Wann würde Caldwell Castle – seine Burg – endlich fertiggestellt sein?
    Johns Blick wanderte den Bergfried hinauf, der ebenfalls noch längst nicht komplett errichtet war. Dort, wo später einmal die oberen zwei Stockwerke und das Dach sein sollten, befand sich momentan nur ein Holzgerüst. Aber wenigstens erhielt man dadurch einen Eindruck von der geplanten Höhe des massiven Turms.
    Massiv – das war er in der Tat. So massiv, dass man von draußen kaum die Schreie der Gefangenen hören konnte, die im Kellerverlies saßen, angekettet an die Wand oder an den derben Holzpflock in der Mitte des dunklen Kellers. John kannte das Verlies nur zu gut. Bevor er verbannt worden war, hatte man ihn einen Tag lang dort unten eingesperrt. Durch die winzigen vergitterten Fensteröffnungen drang kaum Licht, geschweige denn Frischluft. Der Boden war feucht und trotz Strohschicht eisig kalt. Einziger Zugang war das sogenannte Angstloch – eine kleine Luke im untersten Stockwerk des Bergfrieds. Durch sie wurden die Gefangenen ins Verlies gebracht. Die Versorgung mit Wasser und Brot wurde ebenfalls durchs Angstloch vorgenommen, indem man einen Nahrungskorb an einem Seil herabließ.
    John schüttelte die unangenehme Erinnerung ab und konzentrierte sich wieder auf sein eigentliches Vorhaben. Er war hierhergekommen, um die Lage auszukundschaften und um etwas Essen aufzutreiben. Das Essen hatte Vorrang.
    Der Markt befand sich im hinteren Teil des Burghofs. Bauern boten ihre Feldfrüchte auf ausgelegten Decken an, Krämer verkauften von ihren Zugkarren Werkzeuge, Töpfe und andere Gebrauchsgüter. Die reicheren Händler verfügten gar über eigene Holzstände, an denen sie Gewürze, Duftöle und Stoffe in den unterschiedlichsten Qualitäten und Farben anboten. Aber John Callum McNeill interessierte all das nicht. Ihn zog es zu einem ganz bestimmten Punkt: dem Tisch, an dem Bertrand Folsey, der Metzger, seine Waren ausliegen hatte.
    Beim Anblick der perlenkettenartig aufgereihten Würste und der saftigen, roten Fleischstücke lief John das Wasser im Mund zusammen. Es kam ihm so vor, als sähe er einen Schatz vor sich, den er sein ganzes Leben lang begehrt, doch nie bekommen hatte. Da er kein Geld besaß, blieb ihm nur eine Wahl: Diebstahl. Dabei war allerdings Vorsicht geboten, denn einen zweiten Aufenthalt im Kerker wollte er unter allen Umständen vermeiden.
    Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis John endlich seine Chance bekam: Die Frau des Stallknechts, unter deren Gewand sich mächtige Körperformen abzeichneten, verwickelte den Metzger in ein Gespräch. Sie redete in derartigem Tempo auf Folsey ein, dass dieser gar nicht wusste, wie ihm geschah. Er lächelte unsicher, sagte immer wieder »Ja … gewiss« und war im Übrigen völlig überfordert.
    Für John McNeill die perfekte Gelegenheit.
    Er schlenderte scheinbar ziellos an den Metzgerstand heran und vergewisserte sich mit einem Seitenblick, dass Folsey noch immer abgelenkt war. Auch sonst schien niemand von John Notiz zu nehmen.
    Jetzt oder nie!, dachte er aufgeregt.
    In einer einzigen geschmeidigen Bewegung – so, als habe er sein ganzes Leben lang nichts anderes gemacht – ließ er eine Reihe Schweinswürstchen unter seinem Umhang verschwinden. Bei der Vorstellung, wie er
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