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Incognita

Incognita

Titel: Incognita
Autoren: Boris von Smercek
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Büro verbrachten – ging es am Anfang so. Wer körperliche Anstrengung nicht gewohnt war, tat sich zunächst schwer. Erst nach ein paar Tagen waren Kurzatmigkeit und Muskelkater verschwunden. Von da an konnte man das mittelalterliche Flair der Insel so richtig genießen.
    Oben angekommen führte John seine Gäste über die Zugbrücke in die Burg. Ob der Anblick des erhabenen Gemäuers die Russen beeindruckte, vermochte er nicht zu sagen, ihre Gesichter spiegelten keinerlei Gemütsregung wider. Die beiden hätten hervorragende Pokerspieler abgegeben.
    Im Burghof bemerkte John die vielen interessierten Blicke, die sie begleiteten. Zwei Männer im Anzug, noch dazu mit einem Hubschrauber unterwegs – so etwas gab es auf Caldwell Island normalerweise nicht. Entsprechend groß war die Neugier.
    John gab sein Pferd beim Stallmeister ab und ging voraus zum Herrenhaus. An der Treppe standen zwei der Wachsoldaten, vor denen John zuvor geflüchtet war. Einen Moment lang schienen sie unsicher, wie sie sich verhalten sollten, aber angesichts der beiden Geschäftsmänner, die John im Schlepptau hatte, schätzten sie die Lage schließlich richtig ein und verzichteten auf eine Fortsetzung der Verfolgungsjagd.
    John stemmte die schwere Eichenbohlentür auf, ließ den Russen den Vortritt und folgte ihnen ins Innere. Sie schritten einen mächtigen steinernen Gang entlang, der eine angenehme Kühle verströmte. Durch eine Reihe kleiner Fenster, die an Schießscharten erinnerten, fielen von rechts die Sonnenstrahlen herein. Aus den Türen zur Linken konnte man gedämpfte Stimmen, Gelächter und das Klappern von Töpfen und Pfannen vernehmen.
    »Die Küche«, kommentierte John.
    Sergej Ljuganow nickte. »Dürfen wir einen Blick hineinwerfen?«, fragte er in nahezu akzentfreiem Englisch. Dem Aussehen nach war er ein paar Jahre älter als sein Bruder.
    »Selbstverständlich«, sagte John. »Sie dürfen sich alles ansehen. Fühlen Sie sich wie zu Hause.« Immerhin ging es um eine Menge Geld, das John sich von den Russen erhoffte. Da war es nur zu verständlich, wenn sie sich zuvor ein genaues Bild von Caldwell Castle machen wollten.
    Sergej Ljuganow öffnete die Tür und trat in die Küche, gefolgt von seinem Bruder und John. Männer und Frauen in Schürzen schwatzten und tratschten, ohne von ihren Arbeiten aufzusehen. Sie kneteten Teig, rührten in Töpfen, drehten einen Spanferkelspieß über einem offenen Feuer. Entsprechend durchmischt waren die Gerüche. In den würzigen Duft von Gebratenem schlich sich das herrliche Aroma von frisch gebackenem Brot. John lief augenblicklich das Wasser im Mund zusammen. Es kostete ihn einige Selbstbeherrschung, nicht augenblicklich über den Fleischspieß herzufallen oder wenigstens über eins der Brote. Doch welchen Eindruck hätte das auf die Ljuganows gemacht? Er beschloss, sich noch ein wenig zu gedulden.
    Die Russen schienen genug gesehen zu haben. Sie verließen die Küche wieder, und John führte sie weiter durch den Gang. Noch bevor sie die Wendeltreppe erreichten, hörten sie plötzlich das Kreischen einer Frau, dann eine dunkle Männerstimme. Jetzt wieder die Frau – diesmal ging das Kreischen in Gackern und Lachen über. Kurz darauf wurde unmittelbar vor Anatoli Ljuganow eine Tür aufgerissen, und die Frau rannte heraus, noch immer lachend und gackernd – und mit nichts bekleidet außer einem weißen Seidenschal, den sie sich notdürftig vor den nackten Körper hielt.
    »Kommt schon, mein Täubchen!«, tönte es aus dem Zimmer. »Nicht so schüchtern, ich werde Euch schon nicht auffressen!« Mit schweren Schritten trat ein feister Mann mit rosigen Wangen und grauem Haar aus der Tür. Er war splitterfasernackt, seine Haut glänzte nass, und er roch nach Kräutern. Als die beiden merkten, dass sie nicht allein im Gang waren, sahen sie sich an, gaben ein glucksendes Lachen von sich und verschwanden wieder im Zimmer.
    »Das Bad«, bemerkte John knapp. Er bedauerte diesen Zwischenfall außerordentlich, konnte er sich doch vorstellen, was in den Köpfen der beiden spröden Russen vor sich ging. Ein älterer Herr und eine junge Frau, die sich nackt auf einer Burg verfolgten … Er unterdrückte ein Seufzen.
    Zu seinem großen Erstaunen zeigte sich in den Mienen der Russen jedoch erstmals eine menschliche Regung, als ihnen die Badezimmertür vor der Nase zugeschlagen wurde und von drinnen wieder ausgelassenes Gekicher zu hören war. Sie tauschten ein vieldeutiges Grinsen aus, murmelten sich
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