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Incognita

Incognita

Titel: Incognita
Autoren: Boris von Smercek
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Insel ein stilechtes Kostüm tragen – wir haben eine umfangreiche Garderobe, die wir den Gästen zur Verfügung stellen. Auch gewisse Umgangsformen sind von unseren Besuchern zu beachten. Beispielsweise duzen oder siezen wir uns auf Caldwell Island nicht, sondern wir sprechen uns mit Ihr und Euch an. Kurz gesagt: Die Urlauber verpflichten sich dazu, ihre Rolle nach bestem Wissen und Gewissen zu spielen.«
    »Ihre Rolle? Wie meinen Sie das?«, hakte Anatoli Ljuganow nach.
    »Wer hierherkommt, übernimmt für die Dauer seines Aufenthalts sozusagen die Aufgabe eines Laiendarstellers. Er schlüpft in eine Rolle. Wer mag, darf auch mehrere Rollen ausprobieren, um das mittelalterliche Leben aus verschiedenen Perspektiven kennenzulernen. Man kann ein paar Tage als Bauer verbringen, als Wachsoldat, als Ritter, als Adliger – je nachdem, was man ausgeben möchte und wonach einem der Sinn steht. Allerdings ist jeder Gast verpflichtet, seiner Rolle so gut wie möglich nachzukommen. Wir haben ausgebildetes Personal, das die Urlauber dabei unterstützt und dafür sorgt, dass die Spielregeln eingehalten werden. Wer diese Regeln verletzt, muss einen Aufpreis zahlen. Bei mehrmaligen gravierenden Verstößen würden wir die Buchung stornieren und den Störenfried wieder aufs Festland bringen, aber das ist bislang nie vorgekommen. Wer hierherkommt, will sich wie ein Mensch im Mittelalter verhalten.«
    Die Russen tauschten einen Blick. Auch wenn ihre Gesichter ausdruckslos blieben, war John klar, dass ihnen das strenge Regelwerk auf Caldwell Island missfiel. »Soll das hier nicht eine Vergnügungsinsel sein?«, fragte Sergej Ljuganow.
    »Mehr als das«, entgegnete John. »Wie ich bereits sagte: eine perfekte Illusion. Und um diese Illusion aufrechtzuerhalten, ist es nun einmal notwendig, dass alle gewisse Rahmenbedingungen einhalten.« Lächelnd fügte er hinzu: »Bisher hat sich übrigens noch niemand darüber beschwert.«
    Ob die Ljuganows ihm das abnahmen, konnte er ihren Mienen nicht entnehmen. Dennoch mahnte sich John, seine Antworten künftig besser abzuwägen, um nicht die Kontrolle über das Gespräch zu verlieren.
    Anatoli Ljuganow betrachtete nachdenklich das Modell unter der gläsernen Tischplatte. »Wir haben Erkundigungen über Sie eingezogen, Mister McNeill«, sagte er schließlich. »Sie haben von Ihrem Vater einen sehr profitablen Chemie- und Pharmakonzern geerbt. Die Bilanzstruktur ihres Unternehmensverbunds ist gesund, Sie schöpfen große Gewinne ab. Rein finanziell müssten Sie sich diese Insel hier problemlos leisten können. Gestatten Sie uns daher die Frage: Weshalb sucht ein Mann wie Sie Geschäftspartner für Caldwell Island?«
    John war nicht überrascht, dass die Russen Erkundigungen über ihn eingezogen hatten. Es erstaunte ihn höchstens, dass sie dabei nicht sorgfältiger vorgegangen waren, sonst hätten sie die Antwort auf ihre Frage längst gefunden. Aber vielleicht kannten sie die Wahrheit auch schon und wollten ihm nur auf den Zahn fühlen, um zu prüfen, ob er ihnen gegenüber mit offenen Karten spielte.
    »Sie haben recht«, sagte John. »Ich habe von meinem Vater ein kleines Imperium geerbt. Allerdings stehe ich nur pro forma an der Spitze der McNeill Group. De facto liegt die Kontrolle über den Konzern in den Händen einer Treuhändergruppe. Mein Vater hat vor seinem Tod entsprechende Verfügungen erlassen. Ohne die Einwilligung der Treuhänder kann ich kein Konzernvermögen veräußern, um mir Geld zu beschaffen. Und vom Konzerngewinn fällt nur ein gewisser Bruchteil für mich ab. Ich gebe zu, dass dieser Bruchteil mir ein angenehmes Leben beschert, aber er reicht bei Weitem nicht aus, um meine Vision von Caldwell Island in absehbarer Zeit verwirklichen zu können. Deshalb habe ich beschlossen, Kapitalgeber einzubinden.«
    »Sie behaupten ernsthaft, dass Sie keine Möglichkeit haben, den Aufbau von Caldwell Island selbst zu finanzieren?« Die Frage kam von Anatoli Ljuganow und klang, als bezichtige er John offen der Lüge.
    »Ob Sie es glauben oder nicht – genau so ist es. Mein Vater und ich standen uns nie sehr nahe. Auch waren unsere Auffassungen darüber, wie ein modernes Unternehmen zu führen ist, sehr unterschiedlich. Daher schien es ihm vernünftiger, ein Treuhandgremium einzusetzen, anstatt die Geschäftsleitung seinem Sohn zu übertragen.« John wusste, dass seine Worte verbittert klangen. Es war nicht gespielt. Charles Anthony McNeill, sein Vater, hatte ihn mit seinem Letzten
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