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Incognita

Incognita

Titel: Incognita
Autoren: Boris von Smercek
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Willen zwar finanziell gut versorgt, ihn in der Firma jedoch zum Gespött gemacht.
    Nicht, dass John etwas daran gelegen wäre, die Geschäftsleitung faktisch auszuüben. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er sogar zugeben, dass er sich nie sonderlich für die Belange der Firma interessiert hatte. Er hatte nicht etwa Betriebswirtschaftslehre oder Chemie studiert, sondern Geschichte. Später war er dann zwar von seinem Vater zu einer Junior-Geschäftsführerschaft überredet worden, doch John hatte nur aus familiärer Loyalität heraus zugesagt. In Wahrheit fand er keinen Gefallen daran. Weder verstand er das Netz der komplizierten ökonomischen Zusammenhänge, in die der Konzern verflochten war, noch brachte er die Energie auf, sich in die Materie einzuarbeiten. Viel lieber widmete er sich seinen exzentrischen Freizeitaktivitäten – Sportarten oder Urlaube, die die meisten Leute als gefährlich eingestuft hätten: Drachenfliegen am Ayers Rock, Tauchgänge mit Haifisch-Fütterung auf den Bahamas, Offshore-Rennen mit der Antigone, einem 2.000 PS starken Schnellboot, das er sich zum dreißigsten Geburtstag geleistet hatte. Auch ein Überlebenstraining in der sibirischen Taiga hatte er bereits absolviert. Andere Leute mit Geld in der Tasche flogen samstags zum Shoppen nach Nizza oder Paris. Er selbst liebte hingegen das Abenteuer und den damit verbundenen Nervenkitzel.
    Doch was er auch tat – nichts faszinierte ihn auf Dauer so sehr wie die Vorstellung, in einem anderen Zeitalter zu leben, zumindest vorübergehend. Bereits zu Studienzeiten hatte er gemeinsam mit seinem Freund Gordon Cox die wildesten Visionen entwickelt. Vor allem zwei historische Themen hatten es ihnen angetan: die Entdeckung Amerikas und das Mittelalter. Aus Letzterem hatte sich irgendwann die Idee eines mittelalterlichen Freizeitparks entwickelt.
    Lange Zeit hatte Charles Anthony McNeill geglaubt, Caldwell Island sei für seinen Sohn lediglich eine vorübergehende Leidenschaft. Er hatte gehofft, John werde die Lust daran verlieren, sobald die ersten Realisierungsprobleme aufträten. Er hatte sich getäuscht. Je größer die Schwierigkeiten wurden, desto mehr strengte John sich an, und je weiter Johns Projekt voranschritt, desto ablehnender reagierte sein Vater. Er hielt Caldwell Island für eine fixe Idee und obendrein für eine glatte Fehlinvestition. Er warf John mangelnden Geschäftssinn vor und änderte letztlich sogar sein Testament, in dem er John lediglich die Rolle eines gut bezahlten Repräsentanten ohne Entscheidungsbefugnisse übertrug.
    »Von welcher Summe sprechen wir überhaupt?«, fragte Sergej Ljuganow. »Ich meine – wie viel Kapital benötigen Sie, um Ihre Vision zu verwirklichen?«
    John öffnete eine Tischschublade und holte zwei Mappen hervor, die er den Ljuganows reichte. Sofort begannen die beiden darin zu blättern. »In diesen Unterlagen finden Sie alle Zahlen über Caldwell Island«, erläuterte John. »Baukosten- und Investitionsrechnungen, Kapitalpläne, Wirtschaftlichkeitsprognosen und so weiter. Um die Insel so zu gestalten, wie Sie sie hier sehen« – er deutete auf das Modell unter der Glasplatte –, »benötige ich rund zwanzig Millionen Pfund.«
    Die Russen nahmen die Zahl kommentarlos entgegen. »Wie sieht es mit den Einnahmen aus?«, fragte Anatoli Ljuganow. »Mit welchen Umsätzen rechnen Sie?«
    »Meine Experten haben Hochrechnungen für die nächsten zehn Jahre erstellt. Sie finden sie in Ihren Mappen ab Seite 35.« John wartete, bis die Russen die richtige Stelle aufgeschlagen hatten, dann fuhr er fort: »Wir haben drei Szenarien mit unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Rahmendaten durchgerechnet: ein optimistisches Szenario auf der Basis eines stetigen, gesamteuropäischen Wirtschaftswachstums, ein pessimistisches, das von stagnierenden, teils sogar rückläufigen Zahlen ausgeht, und ein neutrales. Unsere Marktumfragen haben ergeben, dass die Leute sich in Zeiten der Hochkonjunktur geradezu auf diese neue Art des Abenteuerurlaubs stürzen werden. Ein Urlaub, der einer Zeitreise gleichkommt, wird Massen von Menschen anlocken.«
    Er dachte an Filme wie Westworld oder Futureworld , die sich mit demselben Thema befasst hatten: Urlaubsparadiese, die ein anderes Zeitalter simulierten. Doch auf Caldwell Island würde es nicht zu einer Katastrophe kommen, weil es keine Yul-Brynner-Roboter gab, die Amok laufen konnten.
    Er ließ von dem Gedanken ab und nahm das Gespräch wieder auf: »Bei
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