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Incognita

Incognita

Titel: Incognita
Autoren: Boris von Smercek
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in ihrer Landessprache etwas zu, dann sagte Sergej: »Ihr Projekt beginnt uns zu gefallen, Mister McNeill.«
    »Dann lassen Sie uns nach oben gehen, damit ich Ihnen alles erläutern kann«, erwiderte John und wies mit der Hand zur Wendeltreppe.
    Im Rittersaal herrschte buntes Treiben, obwohl es erst Nachmittag war. Die allabendlichen Feste begannen meist recht früh – vielleicht einer der Gründe, weshalb Johns Mittelalter-Projekt so regen Zulauf fand. Fein herausgeputzte Herren saßen an einer langen Tafel mit allerlei Leckereien: Pasteten, Schweinekeulen, Wurstplatten, aber auch süßem Gebäck und kleinen, appetitlichen Törtchen. Musiker spielten auf Fiedeln, Harfen, Flöten und Zimbeln. Zu den für moderne Ohren seltsam traurig klingenden Melodien tanzten in der Mitte des Raums ein paar Frauen in wallenden Gewändern. Im Hintergrund schliefen zwei Dobermänner unter einem Gerüst, auf dem ein beachtliches Weinfass ruhte.
    John klatschte ein paarmal laut in die Hände. Alle Blicke richteten sich auf ihn – sogar die der Hunde.
    »Es tut mir leid, dass ich die Feier unterbreche«, sagte er mit erhobener Stimme, »aber ich muss Sie für einige Zeit nach draußen bitten. Es ist wichtig. Vielen Dank für Ihr Verständnis!«
    Enttäuschtes Raunen ging durch die Menge, doch der Raum leerte sich rasch. Als auch die weinseligsten Gäste den Weg nach draußen gefunden hatten, schloss John die Tür. Jetzt gehörte der Rittersaal ganz allein ihm und den Ljuganows.
    »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte John. »Unser Wein ist leider ziemlich sauer – ganz wie es früher üblich war. Aber ich kann Ihnen reinstes Quellwasser anbieten, und unser Bier ist auch nicht zu verachten.«
    Die Russen lehnten dankend ab, waren aber offenbar beeindruckt von dem prächtig ausstaffierten Saal.
    »Tun Sie sich keinen Zwang an«, sagte John. »Sehen Sie sich in Ruhe um. Sie werden feststellen, dass alles, was sich in diesem Raum befindet, dem Stil des dreizehnten Jahrhunderts nachempfunden ist – von den Möbeln über die Wandbehänge bis hin zu den Trinkbechern. Auf Authentizität lege ich größten Wert. Wir wollen unseren Besuchern das Gefühl vermitteln, sich tatsächlich im Mittelalter zu befinden. Wir bieten Ihnen eine perfekte Illusion.«
    Genau genommen stimmte das nicht. Es gab eine ganze Reihe von Dingen, die nicht authentisch waren, aber das musste er den Russen ja nicht unbedingt auf die Nase binden. Wenn erst wieder genug Geld in der Kasse war, konnten solche Unzulänglichkeiten leicht bereinigt werden.
    Während die Ljuganows Johns Angebot nachkamen und ihre Blicke durch den Rittersaal schweifen ließen, konnte John nicht länger widerstehen. Er griff nach einer Schweinekeule, die auf der Festtafel zurückgeblieben war und biss herzhaft hinein. Köstlich! Er hatte gar nicht mehr gewusst, wie gut Fleisch schmeckte! Rasch biss er noch einmal ab. Warmes Fett rann ihm an Kinn und Fingern herab. Bevor die Russen es jedoch bemerkten, wischte er es sich rasch mit dem Ärmel seiner Kutte ab.
    Gemächlichen Schrittes ging er zum anderen Ende des Raums, wo ein wuchtiger Tisch stand, bedeckt von einer noch wuchtigeren Tischdecke. John bedeutete den Ljuganows, auf den massiven Eichenholzstühlen Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich ebenfalls.
    »Ich habe Sie heute eingeladen, damit Sie sich mit eigenen Augen ein Bild von Caldwell Island machen können. Ich weiß, Sie hatten vorab um etliche Unterlagen gebeten, die ich Ihnen noch schuldig bin. Offen gestanden habe ich sie absichtlich zurückgehalten. Ich wollte, dass Sie nicht urteilen, bevor sie mein Projekt wirklich kennengelernt haben. Bitte entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen damit Unannehmlichkeiten bereitet habe.« Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. »Wie Sie wissen, möchte ich Sie als Investoren gewinnen. Ich bin davon überzeugt, dass eine finanzielle Beteiligung Ihrerseits zu unserem gegenseitigen Vorteil sein wird. Bevor wir zum geschäftlichen Teil kommen, lassen Sie mich Ihnen erst einmal zeigen, wie die Zukunft von Caldwell Island aussehen soll.« Erneut machte er eine Kunstpause. Dann stand er auf und zog wie ein Magier die dicke, mit Stickereien verzierte Decke vom Tisch. »Meine Herren – das ist Caldwell Island in spätestens zehn Jahren!«, sagte er betont feierlich.
    Die Russen erhoben sich nun ebenfalls wieder von ihren Plätzen, um besser sehen zu können. Die Tischplatte bestand nicht aus Holz, sondern aus Glas. Darunter befand
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