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Incognita

Incognita

Titel: Incognita
Autoren: Boris von Smercek
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sich ein Miniaturmodell der gesamten Insel, exakt so, wie John sie gestalten wollte.
    »Bevor Sie mich darauf ansprechen – dieser Tisch ist selbstverständlich nicht stilecht«, gab John zu. »Normalerweise steht er auch nicht in Caldwell Castle, sondern in meinem Londoner Büro. Ich habe ihn für Sie herbringen lassen, weil ich denke, dass dieses Modell Ihnen eine sehr viel genauere Vorstellung meiner Ideen vermittelt, als Skizzen, Baupläne oder Worte es könnten.«
    Die Pappmaché-Insel war maßstabsgetreu ausmodelliert und so detailgetreu wie irgend möglich gestaltet worden. Der Grundriss erinnerte an ein Oval. Im Osten und Norden befand sich die Steilküste. Von dort aus kippte das Gelände in Richtung Südwest, wo es als flacher Kiesstrand ins Meer mündete.
    »Caldwell Island umfasst rund achttausend Hektar Land«, erklärte John. »Wie Sie sehen, ist die komplette Osthälfte bewaldet. Im Westen schließen sich ausgedehnte Wiesen und Felder an, die in diese Senke münden. Danach steigt das Gelände wieder an. Am Fuß der Senke erhebt sich dieser Hügel« – er deutete auf die entsprechende Stelle –, »auf dem wiederum Caldwell Castle steht. Die Burg wurde in der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts errichtet, brannte aber nach einem Blitzeinschlag nieder. Sie wurde danach nicht weiter benutzt und verfiel zusehends. Wir haben die Ruine wieder instand gesetzt, zumindest den Großteil. Die Arbeiten rund um den Ostturm werden noch ein paar Monate in Anspruch nehmen, weil wir vorwiegend traditionelle Bautechniken anwenden. Wir arbeiten mit Seilwinden, mechanischen Kränen und Holzgerüsten. Und natürlich mit Muskelkraft. Das kostet zwar viel Zeit, aber dafür ist Caldwell Castle der einzige Ort auf der Welt, an dem man sich wirklich wie im Mittelalter fühlen kann.« Dabei betonte er der einzige Ort auf der Welt besonders, um den Ljuganows die Einmaligkeit dieses Vorhabens zu verdeutlichen. Andere Mittelalter-Projekte waren längst nicht so ambitioniert. Im französischen Guédelon beispielsweise versuchte man ebenfalls, das Mittelalter wieder auferstehen zu lassen, aber die Besucher waren lediglich Zuschauer, keine aktiven Teilnehmer. Die volle Integration der Gäste ins mittelalterliche Leben machte Caldwell Island so besonders.
    »Abgesehen von der Festung existiert auf der Insel heute nur noch dieses kleine Bauerndorf am Fuß des Burghügels«, sagte John und deutete auf die entsprechende Stelle des Modells. »Wie Sie sehen, soll das aber nicht mehr lange so bleiben. Ich habe vor, einen kompletten mittelalterlichen Landstrich auf dieser Insel nachzubauen – eine Stadt mit Handwerkerläden und einer Kathedrale, mit einer Rüstungsschmiede, einer Gerberei, einer Schenke. Ich möchte regelmäßig Ritterturniere veranstalten. Wer hier seinen Urlaub bucht, soll in einer komplett anderen Welt versinken.«
    Wie immer, wenn er über Caldwell Island sprach, fühlte er sich wie ein kleiner Junge an Weihnachten. Ihm wurde warm ums Herz, und seine Augen begannen zu funkeln. Dieses Projekt war sein Ein und Alles. Sein Traum. Mit etwas Glück würde es sein Lebenswerk werden.
    Wie in Trance erzählte John weiter: Auf Caldwell Castle war alles, was nicht ins dreizehnte Jahrhundert gehörte, strikt verboten. Modern ausgestattet war lediglich die Krankenstation, das einzige Zimmer auf der Burg, das über eine Solarstation mit Elektrizität versorgt wurde und mit allem ausgestattet war, was für eine etwaige Notfallbehandlung gebraucht wurde. Autos, Telefone, Armbanduhren, Fernseher und tausend weitere vermeintlich unverzichtbare Dinge der fortschrittlichen Überflussgesellschaft gab es auf Caldwell Island nicht. Interessanterweise schienen die Urlauber, die hierherkamen, genau das zu suchen: die schlichte Lebensart einer längst vergangenen Zeit.
    »Ich habe gehört, dass Ihre Gäste eine Erklärung unterschreiben müssen, bevor sie hierherkommen dürfen«, bemerkte Sergej Ljuganow. »Eine Erklärung, die sie in ihrer persönlichen Freiheit einschränkt. Widerspricht das nicht dem englischen Gesetz?«
    »Caldwell Island steht mit dem Gesetz in keinerlei Konflikt«, versicherte John. »In der von Ihnen angesprochenen Erklärung willigen meine Gäste ein, gewisse Spielregeln einzuhalten, die wir auf dieser Insel aufgestellt haben. Dazu gehört beispielsweise, dass die Urlauber keine persönlichen Gegenstände mitnehmen dürfen – abgesehen von wenigen Ausnahmen wie Medikamenten. Zudem muss jeder auf der
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