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Incarceron

Incarceron

Titel: Incarceron
Autoren: Catherine Fisher
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noch immer in ihren Händen. Die Hühner stoben aufgescheucht auseinander.
    Claudia runzelte die Stirn, dann setzte sie den Visor ab, und die Bewegung ließ den Vogel aufflattern. Die Welt glitt zurück, und die Kutsche war wieder klein. Alys jammerte: »Claudia! Sie sind hier. Komm doch jetzt und kleide dich um!«
    Einen Augenblick lang malte Claudia sich aus, wie es wäre, nicht zu gehorchen. Sie spielte mit der Idee, die Kutsche auf den Hof vorfahren zu lassen, nur um dann vom Baum zu steigen, hinüberzuschlendern, den Schlag zu öffnen und so, wie sie war, vor ihrem Vater zu stehen: die Haare zerzaust und in dem alten, grünen Kleid, das am Saum zerrissen war. Die Missbilligung ihres Vaters würde unübersehbar sein, aber er würde kein Wort
darüber verlieren. Selbst wenn sie nackt auftauchte, würde er vermutlich nichts sagen. Außer vielleicht: »Claudia. Meine Liebe.« Und er würde ihr einen kalten Kuss unters Ohr hauchen.
    Sie schwang die Beine über den Ast und begann mit dem Abstieg, während sie sich fragte, ob es ein Geschenk geben würde. Gewöhnlich erhielt sie eines. Diese Präsente waren teuer und hübsch und wurden von einer seiner Hofdamen für ihn ausgesucht. Beim letzten Mal war es ein Vogel aus Kristall gewesen, der in einem goldenen Käfig saß und schrill sang. Er hatte ihr ein solches Geschenk mitgebracht, obwohl das ganze Anwesen voller Vögel war  – die meisten davon echt  –, die draußen vor den Fenstern herumflogen, trillerten und tschilpten.
    Sie sprang zu Boden, rannte über die Wiese zu der breiten Steintreppe und stieg sie hinab. Das Herrenhaus erhob sich nun vor ihr, und die warmen Steine schimmerten in der Hitze. Glyzinien hingen dunkelrot an den Türmchen und in schiefen, unregelmäßigen Ecken. Claudia sah den tiefen, dunklen Graben, auf dem drei anmutige Schwäne schwammen. Auf dem Dach saßen Tauben, die gurrten und herumstolzierten. Einige von ihnen flogen zu den Ecktürmchen und zwängten sich durch Schießscharten und Mauerschlitze auf kleine Strohhaufen, die Generationen von Tauben zusammengetragen hatten. Zumindest könnte man sich das so vorstellen.
    Â 
    Ein Fensterflügel öffnete sich; Alys’ erhitztes Gesicht lugte hindurch. Sie keuchte: »Wo hast du denn gesteckt? Hast du sie denn nicht gehört?«
    Â»Natürlich habe ich sie gehört. Hör auf, dich so aufzuregen.«
    Während Claudia die Treppe hinaufeilte, ratterte die Kutsche über die Bohlen der Brücke; sie sah das Schwarz zwischen dem Geländer aufblitzen. Dann umfing sie das kühle Dämmerlicht des Hauses mit seinem Duft nach Rosmarin und Lavendel. Ein
Dienstmädchen kam aus der Küche, machte eilig einen Knicks und verschwand wieder. Claudia hastete die nächsten Stufen empor.
    In ihrem Zimmer war Alys schon dabei, Kleider aus ihrem Schrank zu reißen. Einen seidenen Unterrock, das blau-goldene Kleid darüber, aber vorher das rasch zuzuschnürende Mieder. Claudia stand dort und ließ sich zusammenbinden und in das Kleid einzwängen. Sie hasste diesen Käfig, in dem sie gehalten wurde. Über die Schulter ihres Kindermädchens hinweg sah sie den Kristallvogel in seinem winzigen Gefängnis, den Schnabel weit geöffnet, und sie bedachte ihn mit einem finsteren Blick.
    Â»Halt still.«
    Â»Ich bewege mich doch gar nicht.«
    Â»Ich nehme an, du warst bei Jared.«
    Claudia zuckte mit den Achseln. Ein Gefühl von Niedergeschlagenheit überwältigte sie. Sie wollte nichts erklären müssen.
    Das Mieder war zu eng, aber daran war sie gewöhnt. Ihr Haar wurde hastig gebürstet, ehe das Perlennetz darin festgesteckt wurde. Die Haare knisterten aufgeladen, als sie mit dem Samt auf ihrer Schulter in Berührung kamen. Atemlos trat die alte Frau einen Schritt zurück. »Du würdest noch hübscher aussehen, wenn du nicht so böse dreinschauen würdest.«
    Â»Ich gucke böse, wann es mir passt.« Claudia drehte sich zur Tür und spürte, wie das ganze Kleid zu wallen begann. »Eines Tages werde ich heulen und kreischen und ihm ins Gesicht brüllen.«
    Â»Das glaube ich kaum.« Alys stopfte das alte, grüne Kleid in eine Truhe. Sie sah in den Spiegel und schob sich ihre grauen Haare zurück unter ihre Haube. Dann holte sie einen Hautglätter heraus, schraubte ihn auf und entfernte mit geübter Hand eine
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