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Incarceron

Incarceron

Titel: Incarceron
Autoren: Catherine Fisher
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Falte unter ihrem Auge.

    Â»Wenn ich die Königin bin, wer sollte mich da schon aufhalten?«
    Â»Er.« Die Erwiderung ihres Kindermädchens folgte Claudia durch die Tür. »Und du hast ebenso viel Angst vor ihm wie alle anderen auch.«
    Das stimmte. Als sie gemessenen Schrittes die Treppe hinabstieg, wusste sie, dass das schon immer so gewesen war. Ihr ganzes Leben zerfiel in zwei Hälften; in die Zeit, wenn ihr Vater hier war, und die Zeit, wenn er fort war. Sie lebte zwei Leben, ebenso wie die Diener, das ganze Haus, das Anwesen, die Welt.
    Als sie über den Holzboden zwischen den beiden Reihen der erschöpften, schwitzenden Gärtner, Milchmädchen, Lakaien und Fackelträger auf die Kutsche zuschritt, die auf dem Kopfsteinpflaster des Innenhofes haltgemacht hatte, fragte sie sich, ob er es wusste. Wahrscheinlich. Ihm entging nicht viel.
    Auf der letzten Stufe blieb sie stehen. Pferde schnaubten; das Klappern ihrer Hufe hallte, vielfach verstärkt, von den umliegenden Mauern zurück. Jemand rief etwas, und der alte Ralph eilte los. Zwei gepuderte Männer in Livree sprangen hinten von der Kutsche hinab, öffneten den Schlag und klappten die Stufen aus.
    Einen Augenblick lang war die Öffnung in der Kutsche schwarz.
    Dann schob sich eine Hand hinaus und hielt sich am Holz der Kutschkabine fest; ein dunkler Hut tauchte auf, Schultern, ein Stiefel und dunkle Kniebundhosen.
    John Arlex, der Hüter von Incarceron, richtete sich auf und strich sich mit dem Handschuh Staub von seiner Kleidung.
    Er war ein großer Mann mit sehr gerader Körperhaltung. Sein Bart war sorgfältig gestutzt, und sein Gehrock und seine Weste waren aus dem feinsten Brokatstoff gefertigt. Sechs Monate musste es jetzt her sein, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte, doch
er sah völlig unverändert aus. Keiner von seinem Stand musste irgendein Anzeichen von Alterung zeigen; er allerdings schien gar keinen Hautglätter benutzen zu müssen. Er blickte Claudia an und lächelte huldvoll. Sein dunkles Haar war von einem schwarzen Band zusammengehalten und glänzte silbrig elegant.
    Â»Claudia. Wie gut du aussiehst, meine Liebe.«
    Sie machte einen Schritt auf ihn zu und versank in einem tiefen Knicks, bis er ihr eine Hand entgegenstreckte, damit sie sich wieder erhob  – und sie seinen kalten Kuss spürte. Seine Finger waren immer kalt und ein wenig klamm, was ihre Berührungen ein wenig unangenehm machte. Als ob er sich dessen bewusst war, trug er gewöhnlich Handschuhe, selbst bei warmem Wetter. Claudia fragte sich, ob er der Meinung war, dass sie sich verändert habe. »Du ebenso, Vater«, murmelte sie.
    Einen Augenblick lang musterte er sie, und der ruhige Blick aus seinen grauen Augen war hart und klar wie immer. Dann drehte er sich um.
    Â»Erlaube mir, dass ich dir unseren Gast vorstelle. Es ist der Kanzler der Königin, Lord Evian.«
    Die Kutsche wackelte. Ein außergewöhnlich beleibter Mann schälte sich aus ihr heraus, und mit ihm löste sich eine Wolke von Parfüm aus dem Gefährt, die beinahe greifbar die Treppe hinaufrollte. Claudia spürte hinter sich das gespannte Interesse der Bediensteten. Sie jedoch war nur entsetzt.
    Der Kanzler trug einen blauen Seidenanzug mit feinen Rüschen am Hals, die so hoch reichten, dass Claudia sich fragte, wie er überhaupt atmen konnte. Er war rot im Gesicht, aber seine Verbeugung war formvollendet und sein Lächeln gewollt herzlich. »Claudia, Mylady. Das letzte Mal, als ich Euch sah, wart Ihr kaum mehr als ein Säugling, der noch auf dem Arm getragen wurde. Wie wunderbar, Euch nun wiederzusehen.«
    Sie hatte keinen Besuch erwartet. Im Hauptgästezimmer
türmten sich halb zusammengenähte Bahnen ihres Hochzeitskleides auf dem ungemachten Bett. Sie würde sich eine Verzögerungstaktik einfallen lassen müssen.
    Â»Die Ehre ist ganz meinerseits«, sagte sie. »Vielleicht möchtet Ihr mit uns in den Salon kommen. Wir haben Apfelwein und frisch gebackenen Kuchen, damit Ihr Euch von Eurer Reise erholen könnt.« Jedenfalls hoffte sie, dass derartige Erfrischungen tatsächlich vorrätig waren. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass drei der Bediensteten verschwunden waren und man die Lücken, die sie hinterlassen hatten, rasch geschlossen hatte. Ihr Vater warf ihr einen kühlen Blick zu, dann stieg er die Treppe empor und schritt huldvoll nickend an den Reihen der Gesichter
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