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In sueßer Ruh

In sueßer Ruh

Titel: In sueßer Ruh
Autoren: C. E. Lawrence
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Lee an die samtige Haut unter der Jacke denken. »Wirklich?«, sagte sie. »Okay, danke.«
    »Was ist?«, fragte Butts, nachdem sie aufgelegt hatte.
    »Sie haben in einem der oberen Schlafzimmer die Leiche einer älteren Frau gefunden. Sie meinen, es könnte eine Angehörige sein. Er hat ihr jedenfalls nicht das Blut abgelassen.«
    »Vielleicht hat er sie umgebracht, um sie davon abzuhalten, sein Geheimnis zu verraten«, schlug Lee vor.
    »Vielleicht. Bisher entspricht er Ihrem Profil auf jeden Fall ziemlich gut«, meinte Krieger.
    »Mir tut der andere Kleine leid – wie hieß er noch mal?«, sagte Butts.
    »François«, antwortete Lees.
    »Stimmt. Der tut mir leid.«
    »Mir auch.«
    »Sie haben getan, was Sie konnten«, sagte Krieger.
    »Ja, ich weiß.«
    Das machte es aber kein bisschen besser. Noch ein junges Leben, das ausgelöscht wurde – genau genommen zwei. Ganz gleich, was man über den sogenannten Van-Cortlandt-Vampir denken mochte, er war ein menschliches Wesen im besten Jungenalter, und das war noch immer ein Verlust. Verdammt viele Verluste in letzter Zeit, dachte Lee.
    Er sah hinaus auf den einsamen Sanitäter, der sich unter den kalten steinernen Torbogen geduckt hatte. Der Mann nahm einen letzten Zug aus seiner Zigarette und warf sie auf die Erde. Die Glut zuckte kurz und erlosch, ertränkt vom strömenden Regen.

KAPITEL 80
    Lee Campbell stand an seinem Vorderfenster und sah zu, wie es im East Village Abend wurde. Die letzten Sonnenstrahlen reflektierten in der großen Fensterrosette der ukrainischen Kirche gegenüber und tauchten die lang gewandeten Heiligen in den bunten Kirchenglasfenstern in ein verklärendes Licht. Die Tage wurden jetzt kürzer, und die Sonnenstunde für die Heiligen würde immer weiter vorrücken, bis die Häuser von Midtown den Strahlen endgültig den Weg verstellten.
    Ein junges Pärchen schmiegte sich auf der Kirchentreppe aneinander, Kopf an Kopf wie zwei nistende Vögel. Das Haar des Mädchens war dunkel, das des jungen Mannes rötlich grau wie die Ziegelsteine des Wohnhauses nebenan. Sein Haar leuchtete in der untergehenden Sonne – es sah aus, als stünde sein Kopf in Flammen. Leidenschaft, Glut, Blut, Zorn … all das hatte David Adrastos angetrieben, dachte Lee, doch die Kräfte, die ihn geformt hatten, lagen außerhalb seiner Kontrolle. Er konnte nicht anders, der Junge tat ihm leid. Mehr als bei jedem anderen Fall, zu dem man ihn hinzugezogen hatte, bedauerte er diesen jungen Mann und seine verzweifelte Suche nach etwas, das die Leere in seinem Inneren ausfüllen sollte. Nur dass eben nichts das konnte. Das schwarze Loch in seiner Seele war immer größer geworden, bis es begann, ihn und die Menschen in seiner Nähe zu verschlingen.
    Die polizeiliche Untersuchung von Davids Haus hatte viele von Lees Fragen beantwortet und seine Theorien bestätigt. Überall gab es Bilder und Erinnerungen an den Tod seiner Schwester, und es dauerte nicht lange herauszufinden, woran sie gestorben war. Und daraus war nicht schwer abzuleiten, dass seine Fixierung auf Blut hiermit begonnen hatte – auch wenn Lee über die vergiftete Atmosphäre innerhalb der Familie, die dieser Fixierung gestattet hatte, zu wachsen und sich festzusetzen, nur spekulieren konnte. Untröstliche Mutter, distanzierter Vater, alle so mit dem sterbenden Kind beschäftigt, dass das überlebende sich vorkam, als existierte es gar nicht. Lee wusste, dass diese Form der Identitätsvernichtung in eine Tragödie oder in Gewalttätigkeit umschlagen konnte – oder beides.
    Und der arme François. Er konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob er das Gleiche getan hätte, wäre er an seiner Stelle gewesen. Eines Tages könnte es sehr wohl dazu kommen, dass er dem Mörder seine Schwester von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand – und was dann? Würde ihn die Wut überwältigen wie François und ihn in ihre verhängnisvolle Umarmung zerren?
    Die Sonne glitt über die Fassade der Kirche auf das junge Paar auf der Treppe und tauchte es in ihren warmen Schein. Lee freute sich auf den bevorstehenden Herbst, die langen Nächte und kurzen Tage, die umso wertvoller wurden, eben weil sie so kurz waren. Wenn die Tage so lang waren, schienen sie etwas von ihrer Bedeutung zu verlieren. Aber jetzt, wo der Herbst da war, überkam ihn ein tiefer Friede. Er schaute in das langsam anbrechende Zwielicht, der Himmel im Westen war nur noch ein schwaches Rosa.
    Das Telefon klingelte. Es war Chuck.
    »Hallo, ich bin’s.« Er klang
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