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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand
Autoren: Nicci French
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wird dir die Luft abschnüren, und du wirst sterben. Verstanden?«
    Ich nickte.
    »Gut.«
    Dann herrschte Stille. Nur noch Stille. Mein Herz aber toste wie das Meer. Der Draht an meinem Hals brannte.
    Ich atmete, ein und aus, ein und aus.

    Ich stand auf einem hölzernen Steg, vor mir ein spiegelglatter See. Nicht ein Hauch von Wind. Tief unter mir sah ich glatte Kieselsteine, rosa, braun und grau. Ich ging leicht in die Knie, um meine Arme in das kühle, ruhige Wasser zu tauchen, als sich plötzlich etwas um meinen Hals legte, mich mit einem scheußlichen Ruck nach vorne kippen ließ, aber gleichzeitig von hinten festhielt. Das Wasser verschwand, verwandelte sich in tintenschwarze Dunkelheit. Die Schlinge grub sich in meinen Hals. Ich richtete mich auf. Für einen Moment war in mir nur Leere, dann durchflutete mich die Angst, strömte in alle Winkel meines Körpers. Mein Herz raste, mein Mund war trocken. Unter der Kapuze lief der Schweiß über meine Stirn, und ich spürte feuchte Haarsträhnen an meinen Wangen. Am ganzen Körper war mir kalter Angstschweiß ausgebrochen, ich fühlte mich zittrig und klebrig. Ein säuerlicher Geruch stieg mir in die Nase. Meine Angst war jetzt so real, dass ich sie riechen konnte.
    Ich war eingeschlafen. Wie war das möglich? Wie konnte ich schlafen, wenn ich eine Schlinge um den Hals hatte wie ein Huhn, das wartete, bis ihm das Genick gebrochen wurde? Ich hatte mich immer gefragt, wie Gefangene in der Nacht vor ihrer Hinrichtung noch Schlaf fanden, doch ich hatte tatsächlich geschlafen. Wie lange?
    Ich hatte keine Ahnung, vielleicht ein paar Minuten, vielleicht aber auch ein paar Stunden oder noch länger. Ich wusste nicht, ob es noch Nacht war oder schon Morgen.
    Die Zeit war stehen geblieben.
    Natürlich war die Zeit nicht stehen geblieben. Sie lief weiter, lief mir davon. In meinen Ohren dröhnte die Stille.
    Irgendetwas würde passieren, das wusste ich, auch wenn ich nicht wusste, was und wann. Vielleicht jetzt gleich, sowie ich diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, vielleicht erst in einer Ewigkeit, nach einem endlosen Sumpf von Tagen. Mir fielen seine Worte wieder ein, und mit ihnen überfiel mich ein scharfes Brennen in der Magengegend. Es war, als säße in meinem Inneren ein räudiges Nagetier, das meine Eingeweide fraß. »Das haben sie alle gesagt.« Was hieß das? Ich wusste, was es hieß. Vor mir hatte es schon andere gegeben. Sie waren tot, und ich war die Nächste, die hier mit einer Schlinge um den Hals auf einem Mauervorsprung saß, und nach mir

    – nach mir …
    Atme und denke nach. Lass dir etwas einfallen.
    Fluchtpläne zu schmieden war sinnlos. Alles, was ich hatte, waren mein Verstand und die Worte, die ich zu ihm sagte – wenn er mir diesen widerlichen Lumpen aus dem Mund zog. Ich begann im Geiste zu zählen. Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden. Zählte ich zu schnell oder zu langsam? Ich versuchte, mein Tempo zu drosseln. Ich hatte Durst. Das Innere meines Mundes fühlte sich weich und faulig an. Sicher stank mein Atem mittlerweile schon. Ich brauchte Wasser, eiskaltes Wasser.
    Literweise klares Wasser aus einer Quelle tief unter der Erde. Ich hatte überhaupt keinen Hunger mehr, aber sauberes kaltes Wasser in einem großen Glas mit klirrenden Eiswürfeln, das wünschte ich mir jetzt. Ich zählte weiter. Ich durfte nicht aufhören.

    Eine Stunde, achtundzwanzig Minuten, dreiunddreißig Sekunden. Wie viele Sekunden waren das insgesamt? Ich versuchte weiterzuzählen und gleichzeitig die Summe auszurechnen, aber alles geriet durcheinander, und ich verlor beides, die Zeit und die Summe. Tränen liefen mir über die Wangen.
    Ich schob die Beine nach vorn, streckte meinen Körper so weit ich konnte aus, und legte den Kopf in den Nacken, bis mir die Schlinge direkt unter dem Kinn in die Haut schnitt. Ein Balanceakt auf dem Mauervorsprung, dessen Kante sich hart in meinen Rücken drückte, während der untere Teil meines Körpers bereits überhing. Demnach musste der Draht knapp einen Meter lang sein. Ich glich einer Wippe, ich konnte nach hinten kippen, um wieder dazusitzen, abzuwarten und die Sekunden, Minuten und Stunden zu zählen, ich konnte aber auch nach vorn in die Dunkelheit kippen. Irgendwann würde er hereinkommen und mich dort hängen sehen, die Drahtschlinge um den Hals. Auf diese Weise würde ich ihm ein Schnippchen schlagen. Der Zeit ein Schnippchen schlagen. So einfach wäre das.
    Ich schob mich in eine sitzende Position zurück.
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