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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand
Autoren: Nicci French
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Mein Körper zitterte vor Anstrengung. Ich konzentrierte mich auf die Atmung, ein und aus. Ich dachte an den See aus meinem Traum, mit seinem ruhigen Wasser. Dann dachte ich an den Fluss mit seinen Fischen. An den gelben Schmetterling auf dem grünen Blatt. Bebend saß er dort, fast so leicht wie die ihn umgebende Luft. Schon der kleinste Windhauch würde ihn hinunterblasen. So ist das Leben, dachte ich. Auch mein Leben ist nun so zart und zerbrechlich.
    Mein Name ist Abbie. Abigail Devereaux. Abbie. Ich wiederholte im Geist meinen Namen, versuchte ihn mir laut ausgesprochen vorzustellen, doch der Klang verlor rasch seine Bedeutung. Was bedeutete es schon, Abbie zu heißen? Nichts. Bloß eine Zusammenfügung von Silben.
    Zwei Silben. Zweimal ein Mund voll Luft.

    »Ich hatte einen Traum«, sagte ich. Meine Stimme klang heiser und schwach, als hätte die Drahtschlinge bereits meine Luftröhre beschädigt. »Ich bin eingeschlafen und habe geträumt. Haben Sie auch etwas geträumt? Oder träumen Sie nicht?« Ich hatte mir diese Sätze zurechtgelegt, während ich auf ihn wartete. Ich wollte ihm nichts Persönliches über mich erzählen, weil mir das gefährlich erschien, wollte andererseits aber auch nichts Konkretes über ihn erfahren, denn wenn ich etwas über ihn wusste, konnte er mich nicht mehr gehen lassen. Ich fragte ihn nach seinen Träumen, weil Träume etwas Persönliches und zugleich Abstraktes sind. Sie erscheinen uns wichtig, aber ihre Bedeutung ist oft vage, schwer greifbar. Nun aber, als ich meine geprobten Sätzchen laut aussprach, klangen sie bloß töricht.
    »Doch, manchmal«, antwortete er neben mir. »Trink dein Wasser aus, dann kannst du auf den Kübel.«
    »Haben Sie letzte Nacht geträumt?« fragte ich beharrlich weiter, obwohl ich wusste, dass es zu nichts führen würde.
    Er war nur ein paar Zentimeter von mir entfernt. Wenn ich den Arm ausstreckte, könnte ich ihn berühren. Ich widerstand dem plötzlichen Drang, ihn zu packen und aufheulend um Gnade zu bitten.
    »Wenn man nicht schläft, kann man auch nicht träumen.«
    »Sie haben nicht geschlafen?«
    »Trink.«
    Ich nahm wieder nur ein paar kleine Schlucke, um das Trinken so lange wie möglich hinauszuzögern. Mein Hals schmerzte. Es war Nacht gewesen, doch er hatte nicht geschlafen. Was hatte er getan?
    »Leiden Sie unter Schlaflosigkeit?« Ich bemühte mich um einen mitfühlenden Ton, aber meine Stimme klang schrecklich gekünstelt.
    »So ein Blödsinn«, antwortete er. »Man arbeitet, und dann schläft man, wenn einem danach ist. Egal, ob Tag oder Nacht. Das ist alles.«
    Durch die Kapuze drang ein schwaches, körniges Licht.
    Wenn ich den Kopf anhob und nach unten blickte, konnte ich vielleicht etwas sehen, seine ausgestreckten Beine neben mir, seine Hand auf der Kante des Mauervorsprungs. Ich durfte nicht schauen. Ich durfte nichts sehen, nichts wissen. Ich musste im Dunkeln bleiben.

    Ich begann mit gymnastischen Übungen. Zog die Knie hoch und ließ sie wieder sinken. Fünfzigmal. Dann streckte ich die Beine aus und versuchte, mich aus dem Liegen aufzusetzen. Es gelang mir nicht. Kein einziges Mal.
    Gefangene in Einzelhaft wurden oft verrückt, das hatte ich mal gelesen. Bestimmt hatte ich mir damals vorzustellen versucht, wie es sich anfühlen mochte, ganz allein eingesperrt zu sein. Manchmal sagten solche Menschen dann Gedichte auf, aber ich kannte keine Gedichte, zumindest fiel mir keines ein. Ich kannte ein paar Kinderreime. Mary hatte ein kleines Lamm. Hickory, dickory, dock. Der fröhliche, drängende Rhythmus erschien mir obszön und wahnsinnig, ein beharrliches Pochen im Inneren meines schmerzenden Kopfes. Ich könnte selbst einen Vers dichten. Was reimte sich auf dunkel? Gemunkel? Furunkel? Ich konnte nicht dichten, hatte es noch nie gekonnt.
    Ich versuchte noch einmal, mein Gedächtnis zu durchforsten – nicht mein Langzeitgedächtnis, die Erinnerungen an meine Jugend, meine Freunde und meine Familie, an die Dinge, die mich zu dem Menschen machten, der ich war, das Verstreichen der Jahre, die sich wie die Ringe eines Baumstamms aneinanderreihten –
    nein, daran wollte ich nicht denken. Ich musste mich auf mein Kurzzeitgedächtnis konzentrieren, die Erinnerungen, die mir sagen würden, wie ich in den Raum gekommen war, in dem ich mich jetzt befand. Aber da war nichts.
    Eine dicke Wand trennte mein Hier und Jetzt von meiner Zeit davor. Ich begann in Gedanken das Einmaleins aufzusagen. Eine Weile ging es gut, dann verhedderte
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