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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten
Autoren: Tim Powers
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er musste sie ruhig halten, bis der Leim, der ihren Kopf hielt, getrocknet war, aber ein langer Splitter ragte aus dem Rücken der Puppe und stach ihm schmerzhaft in die Hand. Das Ding war außerdem schwer. Sein Arm zitterte von dem Gewicht und der Qual. Aber wenn er losließ, würde die Puppe ruiniert sein.
    Ihre leuchtend gemalten Augen waren auf ihn gerichtet und dann öffnete sie den Mund. » Lass mich fallen«, sagte sie. » Öffne die Hand und lass mich fallen.«
    Der kleine hölzerne Mann sprach mit Shandys eigener Stimme! Bedeutete das nicht, dass es in Ordnung sein musste zu tun, was die Puppe sagte? Shandy wollte es tun, aber er erinnerte sich daran, wie stolz sein Vater gewesen war, als er diese Marionette bekommen hatte. Er konnte sie nicht einfach fallen lassen, ganz gleich, wie sehr es schmerzte, sie festzuhalten.
    » Lass mich fallen«, wiederholte die Marionette.
    Nun, warum nicht, dachte er, während das Brennen des Splitters intensiver wurde. Was, wenn es mein Leben ist, das ich halte? Es tut weh und ohnehin hält keins von diesen Dingern ewig.
    Dann fiel ihm etwas ein, was ein alter Schwarzer einmal zu ihm gesagt hatte, in einem Boot auf der Seine: » Du hast diese Taktik, diesen Kniff mit der Lehmkugel von Philip Davies – und du hast sie verschwendet. Er hat dir noch etwas anderes gegeben; es würde mir nicht gefallen zu erleben, dass du das auch verschwendest.«
    Der Schwarze war fort, aber eine weiche, beruhigende Hand umfasste seine Schulter, und er beschloss, dass er die quälende Marionette noch ein Weilchen länger festhalten konnte. Er öffnete die Augen und starrte in Beth Hurwoods Gesicht.
    Beth hatte mit verständlicher Verzögerung begriffen, dass sie aus ihrem Delirium aufgetaucht und wieder hellwach war – auf einem Pier im Morgengrauen, bekleidet mit ihrem Nachthemd und umringt von stehenden Toten. John Chandagnac war vor ihr und hielt ein Schwert in einer Hand, von der dicke Blutstropfen fielen, und er stand vor einem massigen, kahlköpfigen Mann mit einer rauchenden Faust und einer schrecklichen Wunde im Bauch.
    Es waren die scharfe Kühle der Luft und der saubere Geruch der See gewesen, die sie schließlich überzeugten, dass die seltsame Szenerie kein weiterer Traum war. In der Luft lagen Anspannung und tödliche Herausforderung, und Beth versuchte sich hastig zu erinnern, was hier gerade gesprochen worden war: Ah, Jack. Jemand hat dich den Blut- und Eisentrick gelehrt? … Das wird dir gegen Baron Samedi nichts nützen … Lass das Schwert fallen.
    Ihr Blick war zu Shandys Schwerthand geschweift, und sie war zusammengezuckt, als sie das Blut sah, das sich in der Krümmung des Bügels gesammelt hatte und ihm vom Unterarm tropfte … aber zur gleichen Zeit hatte sie die Tatsache begriffen, dass die Eisennadel, die ihm die Hand in Fetzen schnitt, seine einzige Hoffnung war, und dass dieser kahlköpfige Mann versuchte, ihn dazu zu bringen, die Waffe fallen zu lassen.
    Shandys Augen waren geschlossen, und das Schwert zitterte in seiner Hand – offensichtlich war er bereit, es loszulassen –, aber Beth kam bereits auf ihn zu. Sie fasste ihn energisch mit einer Hand an der Schulter und hielt mit der anderen das Schwert ruhig – indem sie die rasiermesserscharfe Klinge leicht umfasste. Ihr eigenes heißes Blut rann den kalten Stahl hinunter und vermischte sich mit dem von Shandy. Er öffnete die Augen und sah sie an.
    Als ihr und Johns Blut sich mischten, wurde der kahle Mann zurückgestoßen, aber sie wusste, dass er nur behindert, nicht besiegt war.
    Und dann hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf, und zuerst wollte sie ihr wegen des zynischen, lässigen Tons nicht zuhören … es war die Stimme dieses Piraten, dieses Philip Davies! … aber er erklärte irgendetwas, das sie wissen musste, etwas über die Bereiche der Magie, die nur Frauen zugänglich waren und die von Männern nur unter bestimmten Bedingungen nutzbar gemacht werden konnten …
    » Willst du, John, mich, Elizabeth, zu deiner rechtmäßig angetrauten Ehefrau nehmen, mich von diesem Tag an schützen und ehren … ähm, allen anderen entsagen … in Reichtum wie in Armut, in Gesundheit wie in Krankheit – ich glaube, das ist alles –, bis das der Tod uns scheidet?«
    Ihr Nachthemd wehte in der kühlen Meeresbrise um ihre Knöchel und sie zitterte wie eine nasse Katze. Ihre aufgeschnittene Hand bebte, während sie die Säbelklinge umfasst hielt.
    Schwarzbart wurde einen weiteren Schritt zurückgedrängt. Er hatte
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