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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten
Autoren: Tim Powers
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fest zu und trieb die Nadel tief in sein Fleisch. Mit einem plötzlichen Aufblitzen von Intuition hob er das Schwert über den Kopf und brüllte: » Phil!«
    Und ohne sich umschauen zu müssen, wusste er, dass er nicht länger allein war. Mit Hilfe stand er auf, erhob mit seiner tropfenden, zerschundenen Hand das Schwert und schlurfte auf Schwarzbart zu.
    Aber obwohl die massige Gestalt sich als dunkler Schattenriss klar vor der zunehmenden Helligkeit des Himmels und der See abhob, war auch Schwarzbart – vielleicht gegen seinen Willen – nicht länger allein. Als müsse eine Art kosmisches Gleichgewicht aufrechterhalten werden, schien Shandys Ruf Sekundanten für sie beide heraufbeschworen zu haben. Shandy war sich nicht sicher, woher er es wusste. Ein Geräusch? Ein Geruch? Ja, das war es – ein Geruch –, eine schwache, unangenehme Mischung aus Rasierwasser, Schokoladensirup und ungewaschener Wäsche besudelte die klare Seeluft.
    Der unverkennbare Geruch von Leo Friend.
    Schwarzbart ließ die Hand an Beth’ Schulter hinaufgleiten und umfasste sie. Seine Lippen waren nass und seine Augen hätten nicht weiter geöffnet sein können. Er atmete stoßweise durch den offenen Mund. Die Zigarre hing ihm achtlos an der Unterlippe. Shandy begriff, noch während er einen Schritt nach vorn machte, dass der körperlose Leo Friend irgendwie den gleichen Raum einnahm wie Schwarzbart und zumindest im Moment die Kontrolle über ihn hatte.
    Shandy packte Beth’ andere Schulter und wirbelte sie beiseite, dann schlug er dem großen Mann mit dem Handrücken die Zigarre aus dem erschlafften Mund, und als sie zischend unter dem Pier in das Wasser fiel, trieb er mit all seiner verbliebenen Kraft dem Riesen das Schwert in den Bauch.
    Die Augen des großen Mannes blieben weit offen, aber jetzt starrten sie direkt in Shandys, und es war nur Schwarzbart, der aus ihnen herausblickte. Der Mund öffnete sich zu einem blutigen, aber zuversichtlichen Lächeln.
    Schwarzbart trat einen Schritt vor. Shandy, der beinahe ohnmächtig wurde vor Schmerz, stemmte sich gegen den Säbel und versuchte, nicht an Boden zu verlieren, aber obwohl die Klinge um ein paar weitere Zoll in Schwarzbarts Körper gezwungen wurde, musste er einen Schritt zurückweichen. Das Scharren seiner Stiefel klang laut auf den Planken des Piers.
    Der Riese, der immer noch blutig grinste, machte einen weiteren Schritt, und wieder wappnete Shandy sich gegen die Qual in seiner Hand. Diesmal spürte er, wie die Klinge durch den Rücken des Mannes ins Freie drang – aber Schwarzbart hatte jetzt das Kohlebecken erreicht und bückte sich, dann hob er eine der glühenden, aschebestäubten Kohlen auf, so zierlich, als sei es eine Süßigkeit auf einem ihm dargebotenen Tablett, und zerquetschte sie in seiner gewaltigen linken Faust.
    Überall im Hafen und meilenweit die Küste entlang erhoben sich Meeresvögel flatternd in die Luft und schrien erschrocken.
    Rauch quoll zwischen Schwarzbarts Fingern hervor und wehte davon, und Shandy konnte das Fleisch zischeln hören. » Leise schwelendes Feuer«, knurrte der Riese. Schwarzbart trat geschickt zurück, sodass die Klinge, deren Griff Shandy festhielt, aus seinem Körper glitt, dann zog er mit der Rechten seinen eigenen Degen. Für einen Moment hielt er inne und starrte auf die Blutstropfen, die in schneller Folge von Shandys Hand fielen. » Ah, Jack«, sagte Schwarzbart sanft. » Jemand hat dich den Blut- und Eisentrick gelehrt? Du hast die Faust um eine Kompassnadel geballt? Das wird gegen Baron Samedi nichts nutzen – er ist mehr als ein Loa, und ihre Regeln binden ihn nicht. Er hat schon Jahrhunderte vor der Geburt Jean Petros die Kariben die Nacht zu fürchten gelehrt. Lass das Schwert fallen.«
    Shandy war sich sicher, dass er verloren hatte, aber er konnte Philip Davies hinter sich spüren, und als er sprach, dachte er halb, dass Davies ihn dazu drängte. » Meine Männer und ich«, begann Shandy heiser, aber deutlich, » segeln nach New Providence, um uns Woodes Rogers zu ergeben.« Er bleckte die Zähne zu einem Lächeln. » Ich lasse dir die Wahl. Schließe dich uns an, verschreibe dich mit Leib und Seele unseren Zielen, oder lass dich jetzt töten, wo du stehst.«
    Schwarzbart wirkte erschrocken, dann lachte er …
    … und plötzlich taumelte Shandy rückwärts auf die Zimmermannsbank zu und starrte auf die Marionette, die er in der rechten Hand hielt. Es war eine der teuren, drei Fuß hohen sizilianischen Marionetten, und
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