Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten
Autoren: Tim Powers
Vom Netzwerk:
antwortete, ohne sich umzudrehen. » Sie schlafen noch. Ihr spürt die Loas, die uns beobachten.«
    Obwohl er wusste, dass noch nichts Außergewöhnliches zu sehen sein konnte, schaute der Einarmige sich um, und ihm kam zum ersten Mal der Gedanke, dass dies eigentlich keine so unpassende Umgebung war – die Palmen und die Meeresbrise unterschieden sich wahrscheinlich nicht sehr von dem, was man im Mittelmeerraum finden mochte, und diese karibische Insel konnte der Insel sehr ähnlich sein, wo vor Jahrtausenden Odysseus beinahe die gleiche Prozedur vollführt hatte, die sie heute Nacht zu vollführen beabsichtigten.
    Erst nachdem sie die Lichtung auf der Kuppe des Hügels erreicht hatten, wurde Hurwood bewusst, dass er sich vor diesem Augenblick die ganze Zeit gefürchtet hatte. Die Szene hatte nichts übermäßig Finsteres – ein gerodeter Flecken festgetretener Erde mit einer Hütte auf der einen Seite und vier Pfählen in der Mitte, die ein kleines Strohdach über einer Holzkiste stützten. Aber Hurwood wusste, dass in der Hütte zwei betäubte Arawakindianer lagen und dass auf der anderen Seite der Lichtung eine mit Öltuch ausgekleidete, sechs Fuß lange Grube wartete.
    Der Schwarze ging zu der geschützten Kiste hinüber – dem Trone oder Altar –, löste mit großer Vorsicht einige der kleinen Statuen von seinem Gürtel und stellte sie darauf. Dann verneigte er sich, trat zurück, richtete sich wieder auf und wandte sich dem anderen Mann zu, der ihm in die Mitte der Lichtung gefolgt war. » Ihr wisst, was als Nächstes kommt?«, fragte der Schwarze.
    Hurwood wusste, dass dies eine Prüfung war. » Den Rum und das Mehl um die Grube verstreuen«, sagte er und versuchte, selbstsicher zu klingen.
    » Nein«, widersprach der Bocor, » als Nächstes. Noch davor.« Seine Stimme verriet jetzt definitiv Argwohn.
    » Oh, ich weiß, was du meinst«, sagte Hurwood, um Zeit zu gewinnen, während seine Gedanken rasten. » Ich dachte, das würde sich von selbst verstehen.« Was um alles in der Welt meinte der Mann? Hatte Odysseus vorher noch irgendetwas getan? Nein – jedenfalls nichts, was aufgezeichnet worden wäre. Aber natürlich hatte Odysseus zu einer Zeit gelebt, da Magie noch einfach gewesen war … und relativ unverdorben. Das musste es sein – eine schützende Prozedur musste notwendig sein bei einer so auffälligen Tat, um jedwede Ungeheuer in Schach zu halten, die von dem Tumult vielleicht angelockt wurden. » Du sprichst von den Schutzmaßnahmen.«
    » Die woraus bestehen?«
    Als in der östlichen Hemisphäre noch starke Magie am Werk gewesen war, welche Schutzmaßnahmen hatte man da eingesetzt? Pentagramme und Kreise. » Den Markierungen auf dem Boden.«
    Der Schwarze nickte besänftigt. » Ja. Die Verver.« Er legte bedächtig die Fackel auf den Boden, dann kramte er in seinem Beutel und förderte ein kleines Täschchen zutage, aus dem er eine Prise grauer Asche nahm. » Guineamehl nennen wir das«, erklärte er, dann hockte er sich hin und begann das Zeug in einem komplizierten geometrischen Muster auf den Boden zu streuen. Der weiße Mann entspannte sich hinter seiner zuversichtlichen Pose ein wenig. Wie viel es doch von diesen Leuten zu lernen gab! Sie waren gewiss primitiv, aber sie standen in Verbindung mit einer lebendigen Macht, die in zivilisierteren Regionen nur noch verzerrte Geschichte war.
    » Hier«, sagte der Bocor, nahm seinen Beutel ab und warf ihn Hurwood zu. » Ihr könnt das Mehl und den Rum verteilen … und da drin sind auch Süßigkeiten. Die Loas sind darauf ganz versessen.«
    Hurwood brachte den Beutel zu der flachen Grube hinüber – sein Schatten im Fackellicht streckte sich vor ihm zu den Wänden aus Blättern, die die Lichtung umgaben – und ließ ihn dort zu Boden fallen. Er bückte sich, um die Flasche mit Rum herauszuholen, entkorkte sie mit den Zähnen und richtete sich dann auf, um langsam um das längliche Erdloch herumzugehen und den aromatischen Alkohol auf die Erde zu schütten. Als er den Kreis vollendet hatte, war immer noch ein Becher voll in der Flasche übrig, und er trank ihn, bevor er die Flasche wegwarf. In dem Beutel waren außerdem Säckchen voller Mehl und Kügelchen aus Zuckerwerk und er verstreute beides ebenfalls rund um die Grube. Es war ihm etwas unbehaglich, dass seine Bewegungen die eines Sämanns waren, der eine n Acker bewässerte und Saatgut ausbrachte.
    Ein metallisches Quietschen veranlasste ihn, sich zu der Hütte umzuwenden, und das Bild, das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher