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Hades und das zwoelfte Maedchen

Hades und das zwoelfte Maedchen

Titel: Hades und das zwoelfte Maedchen
Autoren: Aimée Carter
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GOTT DER FINSTERNIS
    CALLIOPES ANGEBOT
    Als dem Herrn der Unterwelt war Hades die Furcht der Lebenden und die Ehrerbietung der Toten gewiss. Als Mitglied des ewigen Rats der Götter stand ihm unvorstellbare Macht zur Verfügung. Er war jederzeit bereit zu tun, was immer nötig war, um seine Pflichten zu erfüllen und seine Gesetze durchzusetzen. Und als Herrscher über die Seelen der Verstorbenen würde er ewig leben. Seine Verantwortung ihnen gegenüber garantierte ihm wahre Unsterblichkeit.
    Doch all das hätte er aufgegeben, um sterblich werden zu können.
    In den Äonen seines Daseins hatte Hades mehr Gesichter gesehen, mehr Geschichten gehört als der Rest des Rats zusammengenommen. Irgendwann betrat jeder Sterbliche sein Königreich, und auch wenn er nur einen Bruchteil von ihnen persönlich zu Gesicht bekam, spürte er die Gegenwart eines jeden Einzelnen. Jeden Augenblick waren ihm all diese verlorenen Leben gegenwärtig.
    Das war es, worum er die Sterblichen beneidete: eine festgelegte Spanne zu haben und zu wissen, dass das Leben eines Tages aufhören würde, statt für immer in diesem endlosen Ozean von Zeit zu treiben … Das wäre wundervoll. Auf diese Weise wüsste er, auch wenn er für immer allein bliebe, dass es eines Tages vorbei wäre. Doch als Gott war ihm eine solche Erleichterung verwehrt.
    Er saß auf seinem Thron, hinter sich einen langen Tag des Urteilens über die Verstorbenen. Schwer wog die Stille auf seinen Schultern. Über die letzten Jahrhunderte schien die Zahl der Seelen exponentiell gewachsen zu sein. Vielleicht wirkte es aber auch nur so, weil Persephone nicht länger an seiner Seite war. Seine Frau, seine Freundin, seine Partnerin – er hatte sich weit mehr auf sie verlassen, als ihm bewusst gewesen war. Selbst in dem Wissen, dass sie ihn niemals so lieben würde wie er sie, bewahrte er sie im Gedächtnis, hütete die Erinnerung an sie wie einen Schatz, wie andere ein Leben der Glückseligkeit in ihren Herzen bewahrten.
    Doch er hatte seinen stillen Schwur gehalten, hatte sie nie wieder aufgesucht. Das Wissen, dass sie so nah und doch so verliebt in einen anderen war, bedeutete die pure Qual, und einen solchen Schmerz konnte er sich nicht erlauben. Gerade erst hatten die Wunden zu verheilen begonnen, und auch wenn Narben unvermeidlich waren, würden sie sich niemals schließen, wenn sie durch Persephones Anblick immer wieder aufs Neue aufbrachen.
    Stattdessen gestattete er sich, in den wenigen Stunden seines Schlafs von ihr zu träumen. Darin erlaubte er sich, in einem Leben zu versinken, das sie hätten haben können, hätte er nicht so furchtbar falsch gehandelt – hätte er getan, was sie wollte, das Richtige gesagt, gar nicht erst zugelassen, dass Demeter ihn zu dieser Heirat überredete. Wie es gewesen wäre, wenn er vor all diesen Äonen Persephone selbst gefragt hätte, was sie wollte, bevor sie einander so irreparablen Schaden zugefügt hatten. Und in diesen wenigen Traumstunden war er glücklich.
    Er atmete aus und lehnte sich in seinem Thron zurück. Die Augen fielen ihm zu. Heute waren es fünfhundert Jahre. So lange war es her, dass er sie hatte gehen lassen, und es schmerzte immer noch genauso wie an jenem Tag, als er sie hatte sterben sehen. Von wegen Narben. In diesem Augenblick war er überzeugt, es würde nie besser werden, egal, wie viel Zeit verging.
    Die Türen zum Thronsaal öffneten sich, und seufzend richtete er sich auf. Die nächste Ladung Seelen war erst für morgen früh vorgesehen, und James wäre nicht so töricht, ihn jetzt zu stören. Doch auch wenn er mit niemand Bestimmtem gerechnet hatte, dann am allerwenigsten mit dem Mädchen, das ihm jetzt in dem Torbogen am Ende des Mittelgangs gegenüberstand.
    „Hera. Nein, Calliope“, korrigierte er sich und stand auf. „Es tut gut, dich zu sehen.“
    „Gleichfalls, Hades.“ Sie beugte den Kopf, als sie auf ihn zukam, und er tat es ihr gleich. Es war Jahrtausende her, dass sie beide miteinander allein gewesen waren – noch vor seiner Hochzeit mit Persephone. Die Erinnerung versetzte ihm einen Stich.
    „Ich störe doch nicht bei irgendetwas, oder?“
    Er schüttelte den Kopf, ergriff ihre Hände und drückte sie zur Begrüßung. „Nein, nein. Ich bin hier fertig für heute. Ich wollte mich gerade zurückziehen.“
    „Oh.“ Ihr Lächeln verblasste etwas. „Ich hatte gehofft, wir könnten reden.“
    „Natürlich.“ Er bot ihr seinen Arm, und als sie sich unterhakte, führte er sie aus dem
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