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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten
Autoren: Tim Powers
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Frage mit einem langen, wirren Monolog zu beantworten, den sich zu vergegenwärtigen er sich nicht die Mühe machte – vage nahm er wahr, dass er mit Liebe und Verlust und Reife und Tod und Geburt und dem Rest ihrer beider Leben zu tun hatte. Was immer er gesagt hatte, es schien ihr nicht zu missfallen; und obwohl sie nicht schlafwandelte, ergriff er ihre Hand.
    Sie gingen weiter nach Süden, und als er schätzte, dass es ungefähr drei Uhr morgens war, erreichten sie das sandige Ende eines der Pfade durch den Dschungel, dem sie gefolgt waren. Sie traten unter dem dichten Schirm von Palmen hervor und sahen, dass sie nahe des Strandes herausgekommen waren. Zwischen ihnen und der Schwärze der See standen im schwachen Sternenlicht einige Gebäude; Shandy glaubte, das Büro für Seerecht und maritime Aufzeichnungen zu erkennen, aber er war sich nicht sicher. Sie gingen weiter zum Strand und setzten den Weg dann in südlicher Richtung fort, hielten sich so weit als möglich in den Schatten der Gebäude und überquerten Straßen und offene Plätze so schnell und leise, wie sie nur konnten. Einige Lampen leuchteten in Gebäuden, an denen sie vorbeikamen, und zweimal konnten sie trunkene Stimmen in nicht allzu weiter Ferne hören, aber niemand hielt sie an.
    Sie kamen an mehreren Anlegestellen und auf dem Strand liegenden Booten vorbei … aber jedes Mal, wenn Shandy näher heranschlich, um festzustellen, ob sie das Boot stehlen konnten, war da der Strahl irgendeiner Laterne in der Nähe oder eine flüsternde Stimme; und zweimal hörte Shandy in der nächtlichen Brise das unverkennbare metallische Klicken eines Schwertes, das in seiner Scheide gelockert wurde, und einmal vernahm er am Hafen eine Stimme einen Satz wispern, in dem der Name » Shandy« vorkam. Nachdem sie es nicht geschafft hatten, ihn daran zu hindern, an Land zu kommen, hatten die englischen Behörden offensichtlich nicht die Absicht, ihn wieder auf See zu lassen.
    Vorsichtiger denn je arbeiteten Shandy und Beth sich weiter nach Süden vor. Sie kamen an dem letzten Steinbau vorbei und schlichen auf Zehenspitzen durch eine Gegend mit Bambushütten und Segeltuchzelten, und endlich, als die Sterne schon blasser wurden, erreichten sie Marschland, in dem vereinzelte Fischerhütten die höchsten Punkte der Landschaft waren. Die Moskitos waren hier viel schlimmer und machten es notwendig, dass die beiden Flüchtlinge sich Tücher um die unteren Hälften ihrer Gesichter banden, um die Insekten nicht einzuatmen, aber Shandy gefiel die Einsamkeit dieses Stückchens Strand, und da er sich nicht mehr vollkommen lautlos bewegen musste, begann er längere Schritte zu machen.
    Gerade als es dämmerte, fanden sie einen baufälligen Pier, an dessen Ende ein Segelboot festgemacht war, und Shandy starrte minutenlang auf das halbe Dutzend zerlumpter Männer, die um ein kleines Kohlebecken kauerten – er konnte Nadelstiche roten Lichts sehen, wenn die sprunghafte Brise die Kohlen anfachte, und dann entspannte er sich und setzte sich hinter den Busch, der ihn und Beth vor dem Ufer unter ihnen verbarg.
    » Nur Fischer«, flüsterte er, im Wesentlichen zu sich selbst, denn Beth war in eine ihrer schlafwandlerischen Trancen geglitten. Er hatte ihr seine von dem Kompass beschwerte Samtjacke vor Stunden um die Schultern gelegt, und er zitterte in der frühmorgendlichen Meeresbrise, als er aufstand und Beth dann mühsam hochzog, bis sie taumelnd und mit leeren Augen neben ihm stand. » Komm weiter«, sagte er und führte sie ein Stück den Strand hinunter und befühlte seinen Gürtel, um sich zu vergewissern, dass das Gewicht der Golddublonen noch da war. » Wir werden uns ein Boot kaufen.«
    Er wusste, dass die Fischer sie an einem kühlen Wintermorgen wie diesem für ein seltsames Paar halten mussten – eine offenkundig schlafwandelnde Frau in Nachthemd und Samtjacke, aus dem Dschungel kommend und begleitet von einem mit Schlamm bespritzten, blutverschmierten Mann in eleganter Abendkleidung, und ihrer beider Gesichter schlammverkrustet – aber er war zuversichtlich, dass ein halbes Dutzend Goldmünzen jedes Unbehagen zerstreuen würde.
    Als sie den Hang hinuntergeschlittert waren und durch den Sand auf den Pier zustolperten, hatten die meisten der zusammengekauerten Männer sich umgedreht, um sie anzustarren, nur ein Mann, der einen zerschundenen Strohhut trug und in eine Decke gewickelt war, saß am Ende des Piers und blickte auf die jetzt vom ersten Sonnenlicht berührten
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