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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
Autoren: Simon Lelic
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D ie Welt brodelt. Gleißende Scheinwerfer, Hupen jaulen auf, und die Fahrer hinter ihr, die wild gestikulierend auf die äußere Spur ausweichen, rufen Beschimpfungen durch den Regen.
    Im Wagen ist es ruhiger, jedoch nicht in ihr. Sie fühlt sich lädiert, vom Kurs abgekommen. Das Radio ist an, aber sie hört nicht mehr hin. Sie hält das Handy in der einen Hand und den Kopf in der anderen. Auf dem Display stehen der Name ihres Mannes und die Nummer, die sie in den letzten zehn Jahren immer seltener gewählt hat.
    Hast du schon gehört?, könnte sie fragen, aber natürlich wird er davon gehört haben. Was ist passiert?, könnte sie fragen. Wie haben sie ihn denn nun …? Aber er weiß sicher auch noch nicht mehr als sie, und selbst wenn, würde er es ihr nicht sagen.
    Es tut mir leid, könnte sie sagen. Aber es tut ihr nicht leid, überhaupt nicht. Und es ist ja auch kein Trauerfall, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass man niedergeschlagen sein müsste. Es ist ein Todesfall, aber zugleich eine Erlösung. Ein Höhepunkt. Der Kreis schließt sich. Na dann, herzlichen Glückwunsch. Ihr Schluchzen ist beinahe ein Lachen.
    Sie lässt das Handy sinken und blickt durch zerfließendes Glas hindurch auf Bremslichter. Dann wischen die Scheibenwischer, und die Welt wird wieder klarer. Sie schließt die Augen.
    Ein Hämmern am rechten Ohr lässt sie aufschrecken. Sie zuckt zusammen, das Handy fällt herunter, und als sie sich umdreht, blickt sie draußen vor der Scheibe in ein Gesicht, das sie finster anstarrt. Es ist gelb gesäumt, und drum herum blitzt Blau auf.
    Das ist Brahms, denkt sie. Im Radio. Brahms oder Berlioz. Ein Wiegenlied auf jeden Fall, und mit einem Mal ist sie so müde wie niemals zuvor. Es ist also vorbei. Sie haben ihn gefunden, sie haben ihn getötet. Ein klareres Ende könnte die Sache nicht nehmen. Warum fühlt es sich dann an wie der nächste Anfang?

    Das Polizeiauto folgt ihr bis zu ihrer Abfahrt. Viel zu früh schaltet sie den Blinker ein. Sie beobachtet den neutralen BMW hinter sich und überlegt, ob sie den Blinker noch einmal ausschalten soll. Doch sie erträgt das Klick-Klick und schickt ein Stoßgebet zum Himmel, dass es an der Ausfahrt endlich vorangehen möge. Das Polizeiauto folgt ihr immer noch. Als es sich ebenfalls in die Schlange auf der Ausfahrtspur einreiht, umklammert sie das Lenkrad fester, aber dann im Kreisverkehr fährt der BMW an ihr vorbei. Sie holt tief Luft, nimmt die feuchten Hände vom Lenkrad und rutscht auf dem Sitz hin und her. Den Rest der Heimfahrt blickt sie ebenso oft in den Rückspiegel wie vor sich auf die Straße.
    Die Küche ist dunkel, und sie schaltet auch kein Licht ein, bis sie sich entschließen kann, ein Ei zu kochen. Doch dann will sich die Schale nicht lösen, spielt ihren Fingern einen Streich, und schließlich lässt sie es einfach sein. Sie schiebt den Teller beiseite, Toast und Eierbecher und alles, und zieht ihre Teetasse und die Zigaretten zu sich heran. Und ihr Handy. Sie sieht auf das Display, nur für den Fall, dass sie einen Anruf verpasst hat, obwohl es still ist im Haus und sie das Telefon kaum aus der Hand gelegt hat. Und warum sollte er ausgerechnet sie anrufen? Sie wäre der letzte Mensch auf Erden, den er anrufen würde.
    Sie könnte das Radio einschalten, aber sie würde es nicht ertragen. Es gibt nichts Neues, nein, ganz sicher nicht. Nur Klatsch und Spekulationen und eine Geschichte, die zum hundertsten Mal erzählt wird von Leuten, die sie nichts angeht. Außerdem will sie den Namen nicht hören, seinen Namen. Den Namen des Kindes.
    »Scheiße!«, sagt sie. Sie scrollt bis zur Nummer ihres Mannes, und bevor sie es sich anders überlegen kann, drückt sie auf »Anrufen«.
    Sofort schaltet sich die Mailbox ein. Sie legt auf, wählt dann aber noch einmal, denn die Mailbox ist vielleicht gar keine so schlechte Sache.
    »Leo? Hier ist Megan. Meg. Ich hoffe … ich meine, mir ist klar, dass es eine Weile her ist, seit wir … Ich rufe an, weil … wegen der Nachrichten. Also, ich hab es gehört. Im Auto, auf dem Heimweg. Ich musste kurz anhalten. Irgendwie blöd, aber ich konnte plötzlich nicht mehr klar sehen. Bestimmt auch wegen dem Regen, es hat ja geregnet. Das weißt du natürlich. Also, du bist bestimmt selber bei Regen gefahren, es hat ja kaum mal aufgehört in den letzten Wochen. Wahrscheinlich sitzt du jetzt auch im Auto, um diese Zeit kommst du ja normalerweise … bist du ja meist … Egal. Also, ich rufe bloß an wegen der
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