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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
Autoren: Simon Lelic
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selber sagte. Seine Tochter war eindeutig nicht besonders glücklich. Als sie nach Linden Park gezogen waren, hatte sie die Schule gewechselt, und das mochte ein Grund sein. Aber schon vor dem Umzug hatte ihr etwas gefehlt, was andere Kinder in ihrem Alter ausstrahlten. Wie zum Beispiel auf den Fotos. Ellie fehlte … die Fröhlichkeit. Es brach ihm das Herz, sich das einzugestehen, aber er tröstete sich und seine Frau damit, dass Ellie nur zu viel nachdachte. Sie war zu intelligent, das war das Problem. Fröhlichkeit hatte in Ellies Gedankenwelt keinen rechten Platz, denn sie wurde stets von der Sorge darüber gedämpft, was wohl als Nächstes kam. Deshalb blitzte in ihren Augen so selten ein Lächeln auf. Deshalb wirkte ihre offensichtlich scharfe Intelligenz immer wie blockiert. Aber ihr Wesen würde ihr noch zugutekommen, sagte Leo immer wieder. Eines Tages zahlt sich das aus, Meg, warte nur ab.
    Solche Ängste hatte Felicity Forbes nicht gekannt. Sie war die typische Durchschnittsschülerin gewesen, mit soliden Zweien und Dreien, ab und zu mal einer Eins minus in Musik und einem wachsenden Faible für die Bühne, und sie war mit schwindligem Vergnügen zwischen ihren Schularbeiten und ihrem sozialen Leben hin und her gewirbelt. Sie war sicher extrovertiert gewesen; der Jüngsten in einer großen Familie bleibt oft nichts anderes übrig. Während Ellie ein Einzelkind war, hinterließ Felicity zwei Brüder und eine Schwester, die sie alle abgöttisch geliebt hatten, wie es hieß. Und nicht nur bei den Lehrern und bei ihrer Familie war Felicity beliebt gewesen. Sie hatte ein Heer von Freunden um sich geschart, von dem Ellie und auch Leo nur träumen konnten. Eine Prinzessin der Herzen, wie die Exeter Post  – die selbsternannte Stimme der Region – Felicity betitelt hatte. Es war eine schamlose Anspielung auf die Ereignisse von vor drei Jahren, aber nicht ganz unpassend angesichts der Menge an Blumen vor dem Schultor und der Zahl der Trauergäste, die zur Beerdigung erwartet wurden. Dass Felicity Forbes so bereitwillig seliggesprochen wurde, konnte einen kaum überraschen. Im Grunde war es unvermeidlich, ebenso sehr wegen der Art ihres Lebens wie wegen ihres entsetzlichen Todes.

    Er hätte sie fast vergewaltigt, verdammt noch mal. Fast, das hieß, nicht ganz. Und doch war das, was Daniel Blake zur Last gelegt wurde, schlimmer als Vergewaltigung. Es war brutaler, roher. Es war, um es ganz kühl auszudrücken, steriler.
    Felicitys letzter Morgen war ein Januarmorgen gewesen, der den Frost trug wie eine Perlenkette. Der angekündigte Schnee war nicht gefallen, und vielleicht hatte sie auf dem Schulweg so getrödelt, weil sie sich schon auf einen unterrichtsfreien Tag eingestellt hatte. Das Trödeln war nicht ungewöhnlich für sie – sie kam oft zu spät. Sie hatte allerdings auch einen weiteren Weg als die meisten Schüler, einen weiteren Fußweg, um genau zu sein. Sie wohnte mit ihrer Familie am nordwestlichen Stadtrand, wo die Stadt selbst schon hinter waldigen Hügeln verschwunden war, auf denen hässliche, baufällige Wohnblocks standen. Felicity, die an den meisten Tagen niemand zur Schule fahren konnte, hatte die Wahl, ob sie am Flussufer entlang zu Fuß gehen oder allein auf einen Bus warten wollte, der noch verlässlicher zu spät kam als sie selbst. Im Grunde war das keine Wahl, hatte Felicity schon vor geraumer Zeit beschlossen.
    Fünf vor halb neun, eine ganze Viertelstunde später als sonst, war sie am Waterside Inn vorbeigekommen, hatte der Wirt gesagt. Sie war etwas später aus dem Haus gegangen, hatten ihre Eltern der Polizei berichtet, ohne sich an einen bestimmten Grund dafür erinnern zu können. Vergasen, hatte ihr Vater gesagt, und an diesem Punkt der Zeugenvernehmung war ihre Mutter in Tränen ausgebrochen. Von dem Gehweg aus, der an dem Pub vorbeiführte, hatte Felicity die Fußgängerbrücke überquert und war den Fluss entlang Richtung Süden gegangen. Sie hatte einen Zauntritt überqueren müssen, um auf den Fußweg zu gelangen, und wie sie in ihrem karminroten Mantel über den Zaun steigt, ein Bein hier und eins dort, und ihren Rucksack loszuhaken versucht, mit dem sie hängengeblieben ist, das war das letzte Bild, das er von ihr hatte, sagte der Besitzer des Lokals. Es war das letzte Mal, dass außer ihrem Mörder sie jemand lebend gesehen hatte.

    Er hätte sie fast vergewaltigt, verdammt noch mal. Aber nur beinahe. Er hatte es mit einem Stock getan.
    So weit zumindest der Befund
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