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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
Autoren: Simon Lelic
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Gerichtstermin – dem wichtigsten seiner Karriere – scheint er sich lange mit dem Kamm abgegeben zu haben. Leos Einreiher sieht für seine Verhältnisse sogar recht elegant aus, soweit sie das erkennen kann – was wahrscheinlich bedeutet, dass er sich der damals aktuellen Mode entgegenstellte. Sich der aktuellen Mode entgegenstellen. Das beschreibt den jüngeren Leo insgesamt ganz gut.
    Und vielleicht nicht nur den.
    Wie sehr hat er sich eigentlich verändert? Ist das nicht genau der Knackpunkt: dass er sich nicht veränderte? Nicht verändern würde.
    Auf dem Foto ist noch die Schramme auf der Wange ihres Mannes zu erkennen. Noch immer gerötet. Noch immer konnte sie bluten. Aus der Wunde ist eine Narbe geworden, erinnert sie sich, immer noch sichtbar, aber mit der Zeit verblasst. Bei manchen Wunden ist das ja so.
    Er hat eine Nachricht hinterlassen. Ihr Telefon vibriert, wandert in Richtung Tischkante. Kurz bevor es herunterfällt, nimmt sie es und hält es ans Ohr. Doch sie hört nur Stille – ein, zwei Sekunden lang, dann endet die Nachricht. Er hat ihr also erst auf Band sprechen wollen, es sich dann aber anders überlegt.

    Sie schaltet Newsnight ein. Jetzt ist es auch egal, sagt sie sich. Ihr Widerstand ist sowieso schon gebrochen.
    Natürlich wird davon berichtet, auch wenn das Topthema eine schwere Tragödie im nahen Ausland ist – die hat es wohl mindestens gebraucht, um die Geschichte vom Spitzenplatz zu verdrängen.
    Nach dem ersten Teil der Story schaltet sie ab: geistig, nicht den Fernseher; sie hört nicht mehr zu. Sie ist noch nicht bereit, in die Stille zurückzukehren. Sie ist noch nicht bereit, ins Bett zu gehen. Es ist noch nicht vorbei, geht es ihr immer wieder durch den Kopf. Das jetzt, so wie es ist: Das ist kein Ende. So wird sie es nicht enden lassen.
    Sie steht auf. Sie nimmt die Fernbedienung und drückt genau in dem Moment auf Aus, als das Foto, auf das sie eigentlich hätte vorbereitet sein sollen, groß auf dem Bildschirm erscheint. Und genau das bleibt ihr im Kopf, als sie sich Stufe um Stufe die Treppe hinaufschleppt, die Bluse auszieht, unter die Decke schlüpft und unruhig in flachen Schlaf sinkt: das Gesicht des Kindes, das getötet hat. Des Kindes – so wird es ihr immer in Erinnerung bleiben –, das ihr ihr eigenes genommen hat.

1
    E s herrschte ein Stimmengewirr wie auf einer Party.
    Sie waren nur zu zwölft im Büro – zwölf von fünfzehn Mann in der Kanzlei –, aber er wusste gar nicht mehr, wie oft er die Geschichte schon erzählt hatte. Reiner Zufall, dass ich ans Telefon gegangen bin. Ja, genau, die Zentrale, ich soll mal auf der Wache anrufen. Nein, noch im Büro, aber zehn Minuten später wäre ich auf dem Weg zum Gericht gewesen. Na jedenfalls, ich krieg diese Nachricht und ruf die Meisterin im Polizeigefängnis an. Und die sagt, sie sucht einen Pflichtverteidiger, ob ich das nicht übernehmen kann. Ich kann in dem Moment eigentlich nur an ein Sandwich denken, weil ich seit fünf Uhr auf den Beinen bin und seit dem Frühstück bloß ein Mars zwischen die Zähne gekriegt hab. Außerdem hatte ich gerade sowieso die Schnauze voll, nachdem ich mich mit diesem Clemence rumgeärgert hab, ihr wisst schon, Vandalismus und Alkohol. Genau, diese Fußballgeschichte: drei Absperrkegel und eine Pfeife, und dann die Plymouth-Fans immer schön im Kreis rumfahren lassen. Trotzdem, nicht mal ein Dankeschön. Ein Auf Wiedersehen übrigens auch nicht, nicht mal angeguckt hat er mich, als er zur Tür raus ist. Also jedenfalls hört die Polizeimeisterin schon, dass ich zögere. Leo, bist du das?, fragt sie. Und ich sage, ja, Gayle, aber ich wollte gerade in die Mittagspause. Und Gayle … Kennt ihr sie? Die große Dünne, die einzige Sri Lankerin in ganz Exeter, wie sie sagt. Gayle also sagt: Leo, ich finde, das ist ein Fall für dich. Es war der Ton, in dem sie das gesagt hat. Ich kann gut mit ihr, und ich vertraue ihr. Ich habe wohl geseufzt, aber ich hab gesagt: Na gut. Was gibt’s denn? Ja, genau so. Der größte Fall in der Geschichte des County, und ich hab ihn, wir haben ihn, die Kanzlei, bloß weil ich ans Telefon gegangen bin. Na ja, wird schon werden. Dass ich rangegangen bin: Wer weiß, vielleicht war das der größte Fehler meines Lebens!
    Er erzählte das nur zu gern, immer und immer wieder. Er nahm den Hörer ab, er bekam den Fall. Er hätte es achselzuckend erzählen sollen, aber wie die anderen war er ganz benommen von Koffein und von der Aufregung. Das
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