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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
Autoren: Simon Lelic
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war ein Anfang. Für sie alle, aber besonders für Leonard Curtice war das der Punkt, an dem die Karriere endlich starten würde.

    »Und, wie ist er?«
    Jenny hatte die Frage ausgesprochen, eine der Sekretärinnen, doch die darauffolgende Stille im Raum machte deutlich, dass nicht nur Jenny gespannt auf eine Antwort wartete.
    »Wie ist wer?«, fragte Leo, als wäre er für einen Moment tatsächlich verwirrt gewesen. »Ach so, du meinst den Jungen. Meinen Mandanten.« Leo kostete das Gelächter aus, denn er wusste, er würde sie gleich enttäuschen müssen. Die Wahrheit sah nämlich so aus, dass er eine Stunde mit Daniel Blake in einem Raum verbracht hatte, ohne auch nur ein Wort von dem Jungen zu hören. Der Junge hatte ihn nicht ein einziges Mal angeschaut, hatte seine Anwesenheit am Tisch auf der Seite der Familie Blake womöglich überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Hätte Leo es nicht besser gewusst, hätte er sein Verhalten vielleicht als schüchtern beschrieben. »Still«, viel mehr konnte er deshalb nicht sagen. Und: »Ein Junge eben. Keine Ahnung. Wie ein verängstigter kleiner Junge.«
    Seine Kollegen zuckten zusammen.
    »Verängstigt? Klar war der verängstigt.« Terry Saunders wölbte die Hände um seinen heißen Kaffeebecher. Er deutete mit dem Henkel auf Leo. »Das möchte ich auch hoffen. Der kleine Bastard. Ich meine, tut mir leid, Jenny und Stacie, aber …«, Terry blies die Wangen auf, als könnte er sich allein beim Gedanken daran kaum noch beherrschen, »aber genau das ist er doch. Ein kleiner Bastard. «
    Die anderen nickten, zumindest die Männer. Selbst die Frauen sahen mit einem Stimmt-schon-Blick in ihren Kaffee.
    »Ich weiß, was du meinst, Terry, aber …«
    »Nichts aber, Leo. Klar ist er jetzt dein Mandant, und ich verstehe schon irgendwie, warum du dich aufspielst, als hättest du gerade den Jackpot geknackt …«
    »Jetzt warte mal, Terry. Das ist jetzt kaum …«
    »… aber wir wollen doch mal nicht vergessen, wer dieser Junge ist, ja? Was er getan hat.« Noch einmal versuchte Leo, Terry zu unterbrechen, aber der lief jetzt zu Hochform auf. »Also, wenn ich da gesessen hätte … Wenn ich mit diesem Knaben in einem Raum gesessen hätte …« Er machte noch einmal dicke Backen. »Na ja. Also, wenn ich mit dem fertig gewesen wäre, hätte ich sicher nie wieder als Anwalt tätig sein dürfen, mehr sag ich jetzt mal nicht.«
    Terry reichte Leo bis zum Hemdkragen, und mehr als dreiundsechzig Kilo brachte er nur auf die Waage, wenn er sich die Fußnägel gerade nicht geschnitten hatte. Mit einem Zwölfjährigen konnte er es wohl gerade so aufnehmen, schätzte Leo, aber seine großen Töne waren in Wirklichkeit auch nur das: große Töne. Trotzdem verfehlten sie ihre Wirkung nicht. Es herrschten zustimmendes Nicken und Murmeln, und auch Jennys und Stacies missbilligendes »Na!« klang in Leos Ohren etwas halbherzig.
    »Es war ein schreckliches Verbrechen, das steht fest. Aber der Junge – Daniel – ist noch nicht einmal angeklagt, jedenfalls nicht offiziell. Er hat kaum ein Wort gesagt. Und außerdem steht es uns kaum zu …«
    »War er es, Leo?« Die Frage kam von Stacie. »Sie hätten doch bestimmt nicht so viel Wind gemacht, wenn sie sich nicht sicher gewesen wären, oder?«
    »Na ja, Stacie, du weißt ja … Also, ich darf eigentlich nicht …« Doch Leo sah schon die Enttäuschung in ihrem Blick, und er hasste es, seine Kollegen zweimal zu ernüchtern. »Ja. Ich würde sagen, er war es. Ein klarer Fall, wenn du mich fragst.«

    Apropos große Töne. In gewisser Weise war er schlimmer als Terry mit seinem Gerede darüber, einen Zwölfjährigen fertigzumachen. Nein, Jenny. Ja, Stacie. Ein klarer Fall. Um Himmels willen.
    »Leonard.« Eine Hand auf seiner Schulter. »Ich muss kurz mit Ihnen reden.«
    »Howard, hören Sie zu. Es tut mir leid, wenn ich …« Leo deutete auf die sich zerstreuende Menge, seine Kollegen, die sich jetzt langsam wieder den Faxrollen und den blinkenden Telefonen zuwandten.
    »Nein, nein. Kosten Sie den Moment ruhig aus. Das ist ein Coup, das muss man Ihnen lassen.« Howard entblößte eine Reihe unnatürlich weißer Zähne. Die Dritten, wurde gemunkelt, und auch über die Echtheit seiner Haarpracht herrschten Zweifel. Sie war eigentlich zu dicht und zu gleichmäßig honigblond, als dass sie natürlich gewachsen sein konnte, wo ein Mann in Howards Alter – sechzig? fünfundsechzig? – doch eigentlich wie die meisten Jüngeren in der Kanzlei
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