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In einer Winternacht

In einer Winternacht

Titel: In einer Winternacht
Autoren: Mary Higgins Clark
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völlig gefühllos?«
Wieder zuckte er die Achseln, machte traurig kehrt und ging in Richtung Tür.
»Ich bin die Mutter des Babys, das vor St. Clement ausgesetzt wurde!« rief sie ihm nach. Die Worte hallten im Probenraum wider.
Er blieb stehen, drehte sich um und sah seine Enkelin ungläubig und erschrocken an.
Mit unbewegter Miene und tonloser Stimme erzählte Sondra ihm alles, was geschehen war. Es sprudelte nur so aus ihr hervor.
Danach herrschte lange Schweigen. Schließlich nickte der Großvater. »Das ist es also. Und in gewisser Weise gibst du mir die Schuld daran, daß du dein Kind ausgesetzt hast. Vielleicht hast du recht, aber das spielt jetzt keine Rolle. Wir werden Himmel und Erde in Bewegung setzen, um die Kleine zu finden. Am besten sagen wir es Gary. Er hat ausgezeichnete Kontakte. Wenn er dich deshalb verurteilt, hat er dich nicht verdient. Und jetzt« – er drückte Sondra ihre Geige in die Hand – »spielst du mit deinem ganzen Herzen für das Kind, das du suchst.«
Sondra klemmte sich die Geige unters Kinn und griff nach dem Bogen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihr Kind. Hatte es blondes Haar wie sie selbst oder dunkles, seidenweiches wie sein Vater? Waren seine Augen noch immer blau, braun wie ihre oder dunkel wie seine? Sie hatte diesen Mann nur kurz gekannt, und er war nur auf ein flüchtiges Abenteuer ausgewesen. Doch er war der Vater ihres Kindes. Meine Tochter wird sein wie ich, dachte Sondra. Sie wird aussehen wie ich in ihrem Alter.
Sie ist jetzt sieben. Sicher ist sie musikalisch, überlegte Sondra weiter, während sie mit dem Bogen über die Saiten strich. Ich kann sie mir noch immer nicht richtig vorstellen, sie ist für mich wie ein Schatten in der Ferne. Aber ich höre ihre Schritte, ich spüre ihre Gegenwart, und sie ahnt, wie sehr ich mich nach ihr sehne. Sondra vergaß ihren Großvater und begann zu spielen.
Ich habe ihr nie einen Namen gegeben, sagte sie sich. Wie hätte ich sie genannt? Wie nenne ich sie in meinem Herzen? Beim Spielen grübelte sie über der Antwort nach, fand sie jedoch nicht.
Als die letzten Töne verklangen, schwieg ihr Großvater und nickte schließlich. »Jetzt wirst du eine wirkliche Musikerin. Du hältst dich zwar noch immer zurück, aber es war schon viel besser. Sicher wird man dich um eine Zugabe bitten. Was hast du ausgesucht?«
Sondra antwortete, ohne zuvor überlegt zu haben. »Ein schlichtes Weihnachtslied«, sagte sie. »Stille Nacht«.
    27

A
    m Sonntagmorgen besuchten Alvirah und Willy die Messe in St. Clement. Kate Durkin war auch da und bestand nach dem Gottesdienst darauf, die Meehans zum Kaffee einzuladen.
    Als sie zu Kates Haus kamen, wollten die Bakers gerade ausgehen. »Linda und ich kaufen uns die Morgenzeitungen«, sagte Vic freundlich. »Wir brüten so gern über dem Kreuzworträtsel in der Sunday Times.«
    »Ich kannte einmal einen Mann, der behauptete, er könnte es jede Woche vollständig lösen. Aber als ihm jemand zufällig über die Schulter sah, stellte er fest, daß der Mann nur Unsinn in die Kästchen eintrug, um fertigzuwerden«, sagte Willy. »War das vielleicht ein Freund von Ihnen?«
    Bakers Lächeln gefror. Linda zuckte die Achseln und zupfte ihn am Ärmel. »Komm, Liebling«, flehte sie.
»Wie ich sehe, hat er die schwarze Krawatte schon weggepackt«, stellte Willy fest, als er den beiden nachblickte. Sie gingen Arm in Arm die Straße entlang.
»Ein Wunder, daß sie sich mit diesen hohen Absätzen nicht den Hals bricht«, meinte Alvirah. »Auf dem Bürgersteig sind überall Eispfützen.«
»Glaub mir, die fällt nicht hin«, sagte Kate. »Sie ist ein echter Profi, sie trägt nur hohe Hacken.« Sie schloß die Tür auf. »Kommt rein. Dieser Wind geht einem ja durch Mark und Bein.«
»Trinken wir den Kaffee im Wohnzimmer«, schlug sie dann vor, nachdem alle ihre Mäntel ausgezogen hatten. »Ich habe heute morgen den Kamin angezündet, und es ist warm und gemütlich dort. Bessie saß so gerne nach der Sonntagsmesse im Wohnzimmer, trank Kaffee und aß meinen selbstgebackenen Streuselkuchen.«
Kate lehnte ab, als Alvirah ihr Hilfe beim Tischdecken anbot. »Es sind doch nur ein paar Tassen und Teller! Du läufst dir meinetwegen schon die ganze Woche die Füße wund. Setz dich einfach hin.«
»Ich hatte dieses Zimmer schon immer gern«, meinte Willy, während er sich in dem tiefen Ledersessel, Richter Aloysius Mahers bestem Stück, niederließ. Das Portrait des Richters in seiner Robe, das über dem Kamin hing, blickte
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