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In einer Winternacht

In einer Winternacht

Titel: In einer Winternacht
Autoren: Mary Higgins Clark
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Lennys Lippen, während er ungeduldig wartete, bis die
Türen verriegelt und die Lichter im Gotteshaus gelöscht waren.
Als der Monsignore sich umwandte und den Seitengang
entlangeilte, zuckte Lenny erschrocken zusammen: Der
Geistliche würde direkt am Beichtstuhl vorbeikommen. Und
nun ließ eines der Bodenbretter im Beichtstuhl zu allem
Überfluß ein plötzliches Quietschen vernehmen. Lenny stieß
einen lautlosen Fluch aus und beobachtete durch einen Spalt im
Vorhang, wie der Geistliche stehenblieb und den Kopf
lauschend zur Seite neigte.
Aber anscheinend hatte sich Monsignore Ferris’ Argwohn
wieder gelegt, denn er setzte seinen Weg in den hinteren Teil
der Kirche fort. Kurz darauf ging das Licht im Vorraum aus,
eine Tür öffnete sich und wurde wieder geschlossen. Lenny atmete erleichtert auf – er war allein in der St. Clement Kirche in der 103. Straße in der Upper West Side von Manhattan.
    Sondra stand in einem Hauseingang gegenüber der Kirche. Da das Gebäude gerade renoviert wurde, schützte das rings um das Erdgeschoß verlaufende Gerüst sie vor den Blicken der Passanten. Sie wollte sichergehen, daß der Monsignore die Kirche verlassen und das Pfarrhaus betreten hatte, bevor sie das Baby aussetzte. Seit ein paar Tagen besuchte sie nun schon die Gottesdienste in St. Clement und hatte sich mit den Gewohnheiten des Geistlichen vertraut gemacht. Außerdem wußte sie, daß er in der Adventszeit jeden Abend um sieben Uhr eine Rosenkranzandacht abhielt.
    Noch geschwächt und erschöpft von der Geburt, die erst wenige Stunden zurücklag, lehnte sie sich an den Türrahmen. Ihre Brüste waren vom Milcheinschuß geschwollen. Als unter ihrem nur halb zugeknöpften Mantel ein leises Wimmern hervordrang, wiegte sie das Baby, einem mütterlichen Instinkt folgend, in den Armen.
    Auf dem weißen Blatt Papier, das sie mit dem Baby hinterlegen wollte, hatte sie alles aufgeschrieben, was sie preisgeben konnte, ohne sich selbst zu verraten:
    Bitte finden Sie für mein kleines Mädchen eine gute und liebevolle Familie. Ihr Vater ist italienischer Abstammung, meine Großeltern wurden in Irland geboren. Soweit ich weiß, sind in keiner der beiden Familien Erbkrankheiten vorgekommen. Das Kind müßte deshalb gesund sein. Ich liebe meine Tochter, aber ich kann nicht für sie sorgen. Falls sie eines Tages nach mir fragt, zeigen Sie ihr diesen Brief. Erzählen Sie ihr, die glücklichsten Stunden meines Lebens waren die, in denen ich sie in den Armen gehalten habe. In diesen Augenblicken gab es nur uns beide auf der Welt.
    Sondra hatte einen Kloß im Hals, als sie zusah, wie der hochgewachsene, leicht gebeugt gehende Monsignore aus der Kirche kam und direkt zum Pfarrhaus hinübereilte. Es war Zeit.
    Sie hatte eine Babyausstattung besorgt: ein paar Hemdchen, ein langes Nachthemd, Stiefelchen, eine Kapuzenjacke, Fläschchen mit Babynahrung und Einwegwindeln. Das Baby hatte sie wie ein Indianerkind in zwei Decken und einen schweren wollenen Umhang eingewickelt, denn die Nacht war bitter kalt. In letzter Minute hatte sie noch beschlossen, eine braune Einkaufstüte aus Papier mitzunehmen, denn sie hatte irgendwo gelesen, daß diese Tüten die Kälte gut abhielten. Natürlich würde das Baby nicht lange in der eiskalten Nachtluft ausharren müssen nur bis Sondra von der nächsten Telefonzelle aus im Pfarrhaus angerufen hatte.
    Zögernd knöpfte sie ihren Mantel auf und holte das Baby vorsichtig hervor, wobei sie sorgfältig das Köpfchen stützte. Im schwachen Schein der Straßenlaterne konnte sie das Gesicht ihrer Tochter gut erkennen. »Ich liebe dich«, flüsterte Sondra verzweifelt. »Ich werde dich immer lieben.« Das Baby sah sie an und schlug zum erstenmal ganz die Augen auf. Braune Augen starrten in blaue; langes, dunkelblondes Haar streifte gegen die blonden Löckchen auf der kleinen Stirn; winzige Lippen streckten sich suchend der mütterlichen Brust entgegen.
    Sondra drückte den Kopf des Babys an ihren Hals; ihre Lippen streiften die weiche Wange, ihre Hand liebkoste Rücken und Beine des Kindes. Dann steckte sie die Kleine entschlossen in die Einkaufstüte, griff nach dem aus zweiter Hand gekauften Kinderwagen, der zusammengeklappt neben ihr stand, und klemmte ihn unter den Arm.
    Sie wartete, bis einige Passanten vorbeigegangen waren, eilte dann zur Bordsteinkante und schaute sich in alle Richtungen um. An der nächsten Straßenecke standen Autos an einer roten Ampel, doch weit und breit war kein Fußgänger in Sicht.
    Zwei
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