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In einer Winternacht

In einer Winternacht

Titel: In einer Winternacht
Autoren: Mary Higgins Clark
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sich nichts weiter darin als ein paar Einkaufstüten. Er schob seinen Rucksack in die Gepäckablage des Kinderwagens, und folgte dann rasch den beiden Paaren. Als er sie fast eingeholt hatte, verlangsamte er sein Tempo und schlenderte gemächlich weiter.
    Der Streifenwagen raste vorbei und hielt mit quietschenden Reifen vor dem Pfarrhaus. Als er die Columbus Avenue erreicht hatte, beschleunigte Lenny seine Schritte wieder. Nun mußte er nicht mehr befürchten aufzufallen, denn an so einem kühlen Abend hatten es alle eilig, ihr Ziel zu erreichen. Er würde kein Aufsehen erregen, und kein Mensch würde auf einen mittelgroßen Mann Anfang Dreißig mit scharfen Gesichtszügen achten, der eine Kappe und eine schlichte, dunkle Jacke trug und einen billigen, abgenutzten Kinderwagen vor sich herschob.
    Die Telefonzelle, die Sondra hatte benutzen wollen, war besetzt. Verzweifelt und todtraurig über den Abschied von ihrem Baby überlegte sie, ob sie den Benutzer, einen Mann in der Uniform eines Wachdienstes, unterbrechen und ihm erklären sollte, daß es sich um einen Notfall handelte.
    Doch das ist unmöglich, sagte sie sich bedrückt. Wenn morgen etwas über das Baby in der Zeitung steht, wird er sich vielleicht an mich erinnern und die Polizei verständigen. Niedergeschlagen steckte sie die Hände in die Taschen und tastete nach den Münzen zum Telefonieren und dem Zettel, auf dem die Telefonnummer des Pfarrhauses stand. Aber die wußte sie ohnehin auswendig.
    Obwohl es erst der 3. Dezember war, brannte überall schon die Weihnachtsbeleuchtung, und die Schaufensterdekorationen der Läden und Restaurants an der Columbus Avenue glitzerten. Ein Paar schlenderte Hand in Hand an Sondra vorbei und strahlte sich glücklich an. Die Frau war ungefähr achtzehn, so alt wie ich selbst, dachte Sondra. Allerdings fühlte sie sich in diesem Augenblick viel älter, Lichtjahre entfernt von diesem sorglosen, jungen Paar.
    Es wurde kälter. Sie fragte sich, ob das Baby auch warm genug eingepackt war. Einen Moment lang schloß sie die Augen. Lieber Gott, mach, daß dieser Mann endlich zu telefonieren aufhört, ich muß jetzt unbedingt anrufen.
    Kurz darauf wurde mit einem Klicken der Hörer eingehängt. Sondra wartete, bis sich der Mann einige Schritte entfernt hatte, bevor sie zum Hörer griff, die Münzen einwarf und wählte.
    »Pfarrei St. Clement«, meldete sich die Stimme eines älteren Mannes. Sicher war es der alte Priester, den sie bei der Messe gesehen hatte.
    »Könnte ich bitte sofort mit Monsignore Ferris sprechen?« »Ich bin Vater Dailey. Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Monsignore Ferris ist draußen bei der Polizei. Wir haben einen Notfall.«
    Wortlos hängte Sondra ein. Sie hatten das Baby bereits gefunden. Es war in Sicherheit. Monsignore Ferris würde sich darum kümmern, daß es ein gutes Zuhause bekam.
    Eine Stunde später saß Sondra im Bus nach Birmingham, Alabama, wo sie Musik studierte. Ihr Instrument war die Geige, und wegen ihres außergewöhnlichen Talents sagte man ihr eine glanzvolle Karriere auf der Konzertbühne voraus.
    Erst in der Wohnung seiner alten Tante hörte Lenny das leise Wimmern des Babys.
    Erschrocken blickte er in den Kinderwagen, sah, daß sich die Einkaufstüte bewegte, und riß sie auf. Entsetzt starrte er das winzige Menschenwesen an und las ungläubig den an der Decke befestigten Zettel. Nachdem er ihn gründlich studiert hatte, stieß er einen leisen Fluch aus.
    »Bist du das, Lenny?« rief seine Tante aus ihrem Schlafzimmer, das sich am anderen Ende das schmalen Flurs befand. Die Begrüßung klang nicht sonderlich begeistert, und der starke Akzent wies auf die italienische Herkunft der Sprecherin hin.
    »Ja, Tante Lilly.« Da er das Baby unmöglich verstecken konnte, mußte er sich dringend etwas einfallen lassen. Was sollte er ihr sagen?
    Lilly Maldonado kam ins Wohnzimmer. Obwohl sie bereits vierundsiebzig war, ließen ihr Aussehen und ihr Gang sie zehn Jahre jünger wirken. Ihr Haar, das sie zu einem strengen Knoten zurückgesteckt trug, wies noch viele schwarze Strähnen auf. Ihre großen, braunen Augen funkelten lebendig; sie war klein, vollbusig und hatte rasche, sichere Bewegungen.
    Mit Lennys Mutter, ihrer jüngeren Schwester, war sie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus Italien in die USA eingewandert. Sie war gelernte Näherin, hatte einen Schneider aus ihrem toskanischen Heimatdorf geheiratet und bis zu seinem Tod vor fünf Jahren mit ihm eine kleine Schneiderei in der Upper
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