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In einer Familie

In einer Familie

Titel: In einer Familie
Autoren: Heinrich Mann
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Regelmä-
    ßigkeit von Ebbe und Flut wiederkehrte.
    Kurz vor der Einfahrt begann der alte Herr leb-
    haft und mit etwas übertrieben lauter Stimme zu
    sprechen, und im Laufe des Gesprächs warf er eine
    Bemerkung hin, deren unsicher fragender Tonfall
    die Gleichgültigkeit der Redeweise verdächtig
    machte.
    »Nun bleibt uns noch«, sagte er, »morgen mit
    dem frühesten meiner Frau zu depeschieren, was
    sich ereignet hat. Sie muß es unbedingt noch vor un-
    serer Ankunft wissen; es wird sie doppelt freuen.«
    Wellkamp erwiderte seinem Schwiegervater mit
    einer stummen Verbeugung. Eine Frage hielt er zu-
    rück, sie schien ihm nicht angebracht, da man es bis-
    her vermieden, ihn von einer zweiten Ehe des Ma-
    jors zu unterrichten. Nur daß ihre Mutter nicht
    mehr am Leben, hatte er von Anna erfahren.
    Inzwischen hielt der Wagen vor dem Kurhause.
    Nun der Major sich der ihn lange beschwerenden
    Mitteilung entledigt, ward seine Munterkeit unge-
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    zwungener und lauter als vorher. Im Laufe des
    Abendessens ward er sogar ausgelassen. Man nahm
    dieses, da die frühe Abendtafel des Hotels bereits
    beendet, allein, in einer Fensternische des Speise-
    saales traulich abgeschlossen.
    Zum erstenmale mußte Wellkamp näheres über
    seine Familienverhältnisse berichten.
    »Ach, Deine Mutter auch schon tot!« wiederholte
    Anna.
    »Ja, gleich nach meiner Geburt.«
    »Aber Ihr Herr Vater!« rief der Major, rasch ab-
    lenkend.
    »Hätten wir doch bald vergessen, Ihrem Vater ge-
    bührt auch eine Depesche. Mach’n wir gleich mor-
    gen früh. Wie lange das wohl bis Hamburg dauert. Is
    doch ’n ziemliches Endeken.«
    Angesichts der Bowle, mit deren Bereitung er
    Ehre eingelegt, begann der alte Herr in den Jargon
    seiner Lieutenantstage zu verfallen.
    »Dein Vater wird hoffentlich nach Dresden kom-
    men?« fragte Anna.
    »Ich weiß nicht, aber –« Wellkamp stotterte in
    augenblicklicher Verlegenheit. »– aber ich glaube
    kaum. Er ist so stark beschäftigt, es bleibt ihm zu
    wenig Zeit für andere Dinge.«
    Anna schlug die Augen nieder, sie hatte seine Ver-
    wirrung wahrgenommen. Es mußte eine verlegene
    Pause eintreten, doch der Major hatte, von der
    Bowle in Anspruch genommen, nichts bemerkt. Er
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    begann zu versichern, daß er kein Redner sei, daß
    man sich schon ohne einen Redner behelfen müsse.
    »Aber« – er erhob sein Glas und blinzelte Well-
    kamp zu – »auf ein glückliches Philisterium!«
    Die Müdigkeit seiner Tochter nötigte den alten
    Herrn schließlich, die Tafel aufzuheben. Er hätte
    gern den letzten Abend seiner Freiheit länger ausge-
    dehnt, wie Wellkamp ihn im Hinausgehen sagen
    hörte.
    Letzterer fühlte trotz der späten Stunde, daß es für
    ihn nutzlos sein würde, Ruhe zu suchen. Sein Den-
    ken und Empfinden war übermäßig angespannt
    worden durch die heutigen Ereignisse, welche ihm
    die Aussicht auf eine gänzlich unvorhergesehene
    Zukunft eröffneten, während sie zugleich eine
    schmerzliche Berührung seiner Vergangenheit her-
    beigeführt hatten. Welche Flut von Erinnerungen auf
    ihn eindrang, während er in seinem Zimmer auf- und
    niederschritt, hier und da einige Gegenstände ord-
    nend, um sie in die bereitstehenden Koffer zu legen.
    Erich Wellkamp stammte aus einer Hamburger
    Familie, welche erst durch seinen Vater zum Wohl-
    stand gelangt war. Sie war durch nichts mit einem der
    alten, einflußreichen Häuser verbunden, welche die
    Träger des Ansehens der mächtigen Handelsstadt
    sind. Aber in ihnen hatte der junge Wellkamp stets
    den niederdrückenden Gegensatz zu dem Empor-
    kömmlingsstande vor Augen, dem er selbst ange-
    hörte.
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    Diese Patrizierfamilien schienen ihm Fürstenhäu-
    sern zu gleichen, so erhaben waren sie über die von
    Tag zu Tag stattfindenden sozialen Wandlungen, so
    gefestet in den vornehmen Traditionen ihrer Häuser.
    Ihre Mitglieder traten in der Öffentlichkeit schlicht
    und ohne die Sucht zu glänzen auf, welche die
    »neuen Leute« kennzeichnete, denen nicht durch die
    Gewohnheit von Generationen Reichtum und Rang
    zur Selbstverständlichkeit geworden. Auch konnte
    sie keiner der Vorwürfe treffen, welche gegen Kapi-
    tal und Bürgertum geschleudert wurden. Sie verkör-
    perten in einer Zeit der Auflösung und des Nieder-
    ganges der kaufmännischen Rechtlichkeit die unan-
    tastbare Arbeit ihres Standes.
    Die Vergleiche, welche er zwischen Leuten dieses
    Schlages und seinem eigenen Vater anstel te, mußten
    für den aufgeweckten Knaben bitter genug
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