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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition)
Autoren: Charlotte Rogan
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erkennen gegeben hatte, ein Gebet an.
    Der Diakon hatte eine wundervolle Stimme, und obwohl er ein Mensch war, der in den meisten Situationen unbemerkt blieb, konnte ich, wenn er sprach, kaum die Augen von ihm abwenden. Später fiel mir auf, dass diese Anziehungskraft verloren ging, wenn er mit einem Thema konfrontiert wurde, mit dem er nichts anzufangen wusste, aber beim Gebet war er auf vertrautem Terrain, und seine Stimme hallte über das Wasser und einte uns in seinen Worten. Er hatte seine Bestimmung gefunden, und ich fragte mich – nicht zum ersten Mal –, ob nicht einige der Katastrophen des Lebens daher rührten, dass sich Menschen in Situationen begaben, für die sie nicht geschaffen waren. Ich musste später meine Meinung über den Diakon revidieren. Irgendwann war in meinen Augen sein wohlklingender Tenor der Beweis für seine Schwäche, aber anfangs war ich glücklich, dass ich miterleben durfte, wie der Glaube seine Züge belebte, und ich lauschte andächtig, wie seine Stimme den uralten Worten des Gebets Feuer einhauchte.
    Obwohl wir alle ein gemeinsames Ziel hatten, entstanden kleinliche Eifersüchteleien. Diejenigen, die an der Reling saßen, wurden viel öfter vom Spritzwasser der Ruder getroffen als diejenigen, die mitten im Boot saßen, und als Mr Hardie die Schichten festlegte, in denen wir Frauen den Schlafraum aufsuchen durften, verlangte eine barsche Frau namens Mrs McCain, dass die Älteren das Recht haben sollten, sich zuerst hinzulegen. Sie bekam ihren Willen, hielt es aber nur ein paar Minuten auf den Decken aus, ehe sie erklärte, es sei stickig und heiß unter dem Segeltuch und sie würde ihre Schicht in der Nacht nehmen. Wegen der Beengtheit im Boot waren Bewegungen jeglicher Art ein Problem, und als Mrs McCain auf dem Rückweg zu ihrem Sitzplatz das Gleichgewicht verlor, ergoss sich ein großer Schwall Wasser in das Boot. Mr Hardie kläffte: »Sitzen bleiben, bis ich sage, dass Sie aufstehen dürfen!«
    Mr Hoffman schließlich sprach aus, was wir alle dachten: dass das Boot nicht für so viele Personen gedacht war. Ein paar Minuten später wies Colonel Marsh auf eine Messingplatte hin, die an die zweite Steuerbord-Ruderdolle genagelt war. Darauf war eingraviert: »Belastbarkeit: 40 Personen«. Aber obwohl wir nur neununddreißig waren, war es eine unumstößliche Tatsache, dass das Boot viel zu tief im Wasser lag. Nur der ruhigen See war es zu verdanken, dass wir uns nicht in großer Gefahr befanden. Die Messingplatte gab uns Rätsel auf, Colonel Marsh war geradezu sprachlos. Er war ein Mann der Ordnung, der sowohl an universell gültige Regeln glaubte als auch es im Besonderen für selbstverständlich hielt, dass das geschriebene Wort Gesetz war. »Was man sagt, ist eine Sache«, erklärte er, »aber jemand hat sich die Mühe gemacht, diese Zahl auf einer Messingplatte festzuhalten.« Er rieb mit den Fingern über die Gravur und zählte noch einmal die neununddreißig Insassen des Rettungsbootes ab. Ratlos schüttelte er den Kopf. Er versuchte, Mr Hardie in ein Gespräch darüber zu verwickeln, aber Hardie sagte nur: »Und was schlagen Sie vor? Soll ich mich bei den Leuten beschweren, die das Boot gebaut haben?«
    Später fanden wir heraus, dass das Boot sieben Meter lang war, zwei Meter und vierzehn Zentimeter an der breitesten Stelle maß und in der Mitte gerade einmal einen Meter tief war. Die ursprünglichen Besitzer der Zarin Alexandra hatten beim Bau des Schiffes Geld sparen wollen und daher die Anforderungen für die Rettungsboote geändert. Diese waren nur für achtzig Prozent der eigentlich geplanten Auslastung von vierzig Personen gemacht. Augenscheinlich war der Auftrag für die Messingplatte nie korrigiert worden. Dass das Boot nicht gleich am ersten Tag sank, war vermutlich nur dem Umstand zu verdanken, dass die meisten Passagiere Frauen waren und damit kleiner und leichter als ein durchschnittlicher Mann.
    Mr Hoffman und Mr Nilsson hatten oft die Köpfe zusammengesteckt, was mir den Eindruck vermittelte, sie seien einander irgendwie verbunden, aber da sie ganz hinten im Boot saßen und ich im vorderen Drittel, hatte ich kaum Gelegenheit, mich mit ihnen zu unterhalten, und konnte auch nicht verstehen, was sie miteinander sprachen. Hin und wieder zogen sie Mr Hardie in ihr Gespräch, wobei dieser recht einsilbig blieb. Wir hatten keine Erfahrung damit, wie man sich in einem so kleinen Boot bewegen musste, und als das nächste Mal die Schicht im Schlafraum wechselte und
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