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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition)
Autoren: Charlotte Rogan
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die drei Frauen beim Aufstehen nicht achtgaben, kam erneut ein Schwall Wasser ins Boot. Mr Nilsson machte einen Scherz, ob der eine oder andere nicht eine Runde schwimmen gehen wolle, woraufhin Colonel Marsh erwiderte: »Gute Idee. Warum springen Sie nicht selbst über Bord?«
    »Ich bin der Einzige außer Hardie, der etwas über Boote weiß«, erklärte Mr Nilsson und erzählte uns dann, dass er in Stockholm aufgewachsen war, wo Boote so alltäglich waren wie Automobile. »Wenn Sie mich über Bord werfen, schaden Sie sich damit nur selbst«, fügte er hinzu. Sein Ton klang herausfordernd und passte nicht zu einem Mann, der nur einen Scherz gemacht hatte.
    »Hier redet keiner davon, irgendjemanden über Bord zu werfen«, sagte Mr Hoffman sachlich. »Wir reden über Freiwillige.«
    Wir saßen noch keine achtundvierzig Stunden in dem Boot. Das Meer war relativ ruhig, und wir waren immer noch der festen Überzeugung, gerettet zu werden. Im Verlaufe des Nachmittags allerdings änderte sich Mr Hardies Haltung, der Mr Hoffmans Bemerkung anfangs ablehnend gegenübergestanden hatte. Nun schien er sie ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Als am Morgen jemand vorgeschlagen hatte, mit den anderen Rettungsbooten in Kontakt zu treten, hatte Hardie erklärt, dass für derart drastische Maßnahmen, wie er sich ausdrückte, keine Notwendigkeit bestünde. »Wir sichten bestimmt bald einen Dampfer oder einen Fischkutter«, setzte er hinzu. Aber nun sah man die drei Männer leise miteinander diskutieren, und als am Nachmittag Mr Hoffman erneut auf einen Notfallplan zu sprechen kam, nickte Hardie und schaute dann in die Ferne, als ob er dort etwas bemessen würde, was ich nicht einmal sehen konnte.
    »Wenn der Wind stärker wird, haben wir keine Zeit mehr für Diskussionen«, hörte ich Mr Nilsson zu Colonel Marsh sagen. »Einen Plan zu haben, heißt ja noch lange nicht, ihn auch in die Tat umzusetzen.« Mr Hardie war nicht der Typ, der duldsam Befehle entgegennahm, und ich hatte den Eindruck, dass man uns in irgendeiner Weise manipulieren wollte. Aber mein Gehirn war taub vor Angst, und erst jetzt, wo das alles hinter mir liegt und ich mich einer anderen Art von Autorität gegenübersehe, entsteht in mir der Eindruck, dass in dem Rettungsboot von Anfang an ein Netz aus Einflussnahme und Verrat gewoben wurde.
    Allerdings wurde mein Kopf zunehmend klarer, je mehr Zeit verging, auch wenn das seltsam erscheinen mag. In jenen ersten Stunden hatte ich zu viel Angst, um mich kritisch mit meiner Situation auseinanderzusetzen. Mir war entweder zu kalt oder zu heiß, ich hatte Hunger und Durst und war furchtbar nervös. Ich bildete mir Dinge ein und sagte oft zu der jungen Frau, die neben mir saß: »Was ist das da drüben, Mary Ann? Auf zwei Uhr. Glitzert da nicht etwas in der Sonne?« Oder: »Was ist das für ein dunkler Schemen, Mary Ann? Das sieht doch aus wie ein Boot, oder?« Gegen Abend des zweiten Tages, als die riesige orangefarbene Sonne wie ein schwerer Ball im Meer versank und die Leute langsam aus ihrer Schockstarre erwachten und sich hier und da über schmerzende Muskeln oder nasse Füße beklagten, sagte Mr Hoffman: »Wenn sich keine Freiwilligen melden, müssen wir Lose ziehen.«
    Bei diesen Worten warf Anya Robeson, eine Frau, die nur wenig sagte und von der Mary Ann behauptet hatte, sie sei »jemand aus dem Zwischendeck«, Mr Hoffman einen strengen Blick zu und drückte ihren Sohn Charles unter ihrem Mantel an sich. Sie wollte nicht, dass er etwas Derartiges hörte. »Passen Sie auf, was Sie sagen«, ermahnte sie die Männer, wann immer sie vom Tod sprachen oder sich einer obszönen Ausdrucksweise bedienten. »Es ist ein Kind anwesend.«
    Ich weiß nicht, warum sie sich solche Sorgen darüber machte. Vielleicht, damit sie sich nicht über das Meer ängstigen musste, das sich in die Unendlichkeit erstreckte und ständig die Farbe veränderte: von Blau zu Grau, wenn eine Wolke vor die Sonne trat, und von Grau zu Blutrot, wenn die Sonne sich dem Horizont zuneigte. Ein Mädchen aus Deutschland namens Greta Witkoppen brach in Tränen aus, und zuerst dachte ich, sie weinte, weil es bald dunkel wurde oder weil sie einen geliebten Menschen verloren hatte. Dann wurde mir klar, dass die Worte der Männer sie in Furcht versetzt hatten.
    Mrs Grant beugte sich zu ihr und tätschelte ihr die Schulter. »Keine Sorge«, sagte sie zu ihr, »Sie wissen doch, wie Männer sind.« Daraufhin wagte es Greta aufzubegehren, indem sie sagte: »Sie machen
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