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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition)
Autoren: Charlotte Rogan
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ist, setze jenes liebliche und leere Lächeln auf, das mir während des Prozesses zugutekam und das Dr. Cole in die Raserei treibt. Denn schließlich habe ich bereits das volle Ausmaß meiner Bedeutungslosigkeit erfahren, und ich habe überlebt.
    Als ich etwas in dieser Richtung zu Dr. Cole sagte, hielt er mir einen Vortrag über Schuldgefühle und meinte, dass Menschen nicht verantwortlich für das Glück oder das Pech seien, das ihnen widerfährt. Ich versicherte ihm immer wieder, dass ich mir genauso wenig die Frage stellte, warum ausgerechnet mir all dies zugestoßen sei, wie ich den Zufall meiner Geburt infrage stellte. Meine Gefühle waren sowohl positiv wie auch negativ. Tief im Herzen war ich froh, dass ich die Welt mit anderen Augen sah, frei von den Abhängigkeiten anderer Leute, frei von der Angst vor dem Tod und dem Glauben an Gott. Möglicherweise ist es genau diese Freude, die Dr. Cole Rätsel aufgibt, und ich habe das Gefühl, dass er bei dem Versuch, mich zu kurieren, auch gerne sich selbst kurieren möchte.
    Heute habe ich Dr. Cole mitgeteilt, dass ich weggehen werde, obwohl ich noch nicht genau weiß, wohin. »Aber wir haben noch so viel Arbeit vor uns!«, protestierte er. Ich erklärte ihm, dass ich mich zu einem neuen großen Abenteuer einschiffen würde und dass dieses hier nun beendet sei. »Sie wollen heiraten!«, rief er.
    »Wie wenig Fantasie Sie doch haben! Es gibt unendlich viele Möglichkeiten! Niemand weiß, wohin es mich treiben wird«, sagte ich und fühlte mich dabei sehr frei und sehr erleichtert. Allerdings fürchte ich, dass das Leben ebenso fantasielos ist wie Dr. Cole und dass ich Mr Reichmanns Heiratsantrag wohl annehmen werde, weil ich nichts Besseres vorhabe. Henrys Mutter hat mich gebeten, nach New York zu kommen, und irgendwann werde ich sie auch besuchen, aber ich schiebe es vor mir her. Ist es nicht merkwürdig, dass etwas, was mir früher als wichtigster Bestandteil einer sorgenfreien Zukunft erschien, heute keine Rolle mehr spielt?
    »Sie werden niemals Ihren inneren Frieden finden, wenn Sie Ihre widersprüchlichen Gefühle bezüglich der Ereignisse im Rettungsboot – und mir gegenüber – nicht aufarbeiten«, sagte Dr. Cole, aber ich versicherte ihm, dass ich meinen inneren Frieden bereits gefunden hätte. Im Augenblick kam mir das Leben wie ein Spiel vor, ein Spiel, das ich möglicherweise sogar gewinnen konnte, hauptsächlich deswegen, weil ich noch nicht ausgeschieden war und noch keine weiteren unwiderruflichen Entscheidungen getroffen hatte. Das würde ich allerdings bald tun müssen. Man kann nicht lange auf der Messerspitze der unbegrenzten Möglichkeiten balancieren, ohne auf der einen oder anderen Seite abzustürzen, wie mir meine Erfahrungen im Rettungsboot unmissverständlich klargemacht hatten. Hatte ich Schmetterlinge im Bauch in Williams Gegenwart? Nein, aber er versicherte mir, er hätte sie in meiner, und das macht mich glücklich.
    Greta hat mir wieder geschrieben. Sie erzählte mir, dass die überlebenden Frauen Geld für Hannahs und Mrs Grants Berufung sammelten, und sie fragte mich, ob ich mich beteiligen wolle. Außerdem bat sie mich im Namen der anderen, meinen Einfluss bei Mr Reichmann geltend zu machen, damit er die Fälle der beiden Frauen übernahm, für ein deutlich geringeres Honorar als üblich. Am folgenden Tag saß ich vor meinem Notizbuch und entwarf eine Antwort – mehrere Antworten, um ehrlich zu sein. In der ersten versicherte ich, ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, und in der zweiten fragte ich, wie in aller Welt Leute, die mich nicht nur in ihr Verbrechen mit hineingezogen, sondern sich auch später gegen mich gewandt hatten, mich um Hilfe bitten konnten. In einer dritten wünschte ich ihnen höflich, aber unverbindlich alles Gute. Ich erzählte Dr. Cole von den drei Briefen und fragte ihn, welchen ich abschicken sollte. Natürlich wusste ich genau, was er erwidern würde. »Welchen wollen Sie denn abschicken?«
    »Natürlich habe ich kein Geld, das ich ihnen geben könnte«, sagte ich. Ich wünschte ihnen von ganzem Herzen alles Gute, aber ich wollte nicht, dass William sich im ersten Jahr unserer Ehe in einer Sache vergrub, die ich hinter mir lassen wollte.
    Anders als der feuchte Gefängnisraum, in dem wir uns während der Verhandlung getroffen hatten, war Dr. Coles Sprechzimmer groß und luftig und hatte eine Fensterfront, die den Hafen überblickte. Die letzten Minuten unserer letzten Sitzung verbrachte ich damit,
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