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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition)
Autoren: Charlotte Rogan
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Vorwärtskommen, und wir lagen kraftlos im Boot. Keiner von uns hatte die Energie, sich noch um irgendetwas zu kümmern. Einzig Mrs Grant blieb aufrecht sitzen und beobachtete den Horizont auf der Suche nach einem Schiff oder spähte über die Seitenwand in der Hoffnung, in dem totenstillen und durchsichtigen Wasser einen Fisch zu entdecken.
    Einmal sahen wir in der Ferne einen Wal. »Oh«, sagte Hannah mit einem hohlen kleinen Lachen, »ein Wal würde ziemlich lange reichen.« Sie schloss die Augen, streckte die Arme über das Wasser aus und murmelte eine Walbeschwörungsformel, aber natürlich hätte uns der Wal, wenn er näher gekommen wäre, glatt ins Meer gespült, und dann wäre es ein für alle Mal aus mit uns gewesen. Colonel Marsh nannte das Tier einen »Leviathan« und erzählte uns von einem Buch und einem Mann namens Thomas Hobbes, der glaubte, dass Menschen hauptsächlich durch das Verlangen nach Macht und die Angst vor anderen Menschen angetrieben werden. Er sagte: »Hobbes behauptet, dass alles, was passiert, durch wissenschaftlich belegbare Gesetzmäßigkeiten vorhergesagt werden kann und dass diese Gesetze die menschliche Natur bestimmen und Menschen zwingen, selbstsüchtig zu handeln.«
    »Ich weiß nicht, wie uns das helfen soll«, bemerkte Mrs McCain. Und dann kehrten sie und alle anderen in das stille Kämmerlein des Geistes zurück, wo wir die meiste Zeit verbrachten. Ich glaube nicht, dass sich irgendjemand mit Ereignissen beschäftigte, die in der Zukunft lagen, jenseits des Rettungsbootes. Wir hatten unser Schicksal akzeptiert. Wir lebten im Hier und Jetzt.
    Ich saß entweder neben Mr Nilsson, mit dem gemeinsam ich das Steuer umklammert hielt, oder auf meinem alten Platz neben Mary Ann. Es gibt immer noch Lücken in meinem Erinnerungsvermögen, aber während ich darauf wartete, dass die Geschworenen ihr Urteil fällten, versuchte ich, sie zu füllen. Ich glaube, es waren zwei oder drei Tage seit Hardies Tod vergangen, als Mary Ann krank wurde. Ich muss ebenfalls krank gewesen sein, denn ich weiß noch, dass ich neben ihr saß und gemeinsam mit ihr zitterte, mich gegen ihren knochigen Körper drängte, mit der gleichen Schwäche, mit der sie sich an mich lehnte. Dann und wann wurde das Ableben eines weiteren Insassen verkündet, und jene, die noch genug Kraft hatten, hievten die Leichname über Bord. Ich weiß nicht mehr, wem es auffiel, dass sich Mary Ann schon geraume Zeit nicht mehr bewegt hatte, und an einem späten Vormittag gesellte sie sich zu jenen, die ein nasses Grab im Ozean gefunden hatten.
    Einmal schlug Mr Nilsson vor, dass uns die Körper der Verstorbenen als Nahrung dienen könnten, aber Mrs Grant gebot einer solchen Diskussion sofort Einhalt, und keiner sprach mehr darüber. Ich erinnerte mich an das, was Mr Preston über den Zusammenhang zwischen dem Überlebenswillen und dem tatsächlichen Überleben eines Menschen gesagt hatte, und ich fragte mich, ob irgendjemand von uns noch diesen Willen besaß. Wir sprachen kaum, und rückblickend kommen mir alle Worte, die ich vielleicht gesagt haben könnte, wie eine Halluzination vor. Meine Zunge war geschwollen, und aus Mangel an Flüssigkeit war mein Speichel, der lange Zeit dick und übelschmeckend in meinem Mund geklebt hatte, gänzlich versiegt, sodass meine Zunge wie ein totes Tier in meinem Mund lag, nicht länger gewandt und flink, sondern verschrumpelt und runzlig, wie eine eingetrocknete tote Maus. Auch meine Augen fühlten sich trocken an und brannten wie Feuer, und wenn ich aufstand, um zu den Decken zu gehen oder zum Steuer, wusste ich oft nicht mehr, wo rechts und links war. Lichtblitze und Schattenflecken tanzten mir vor den Augen, als ob ich in einem dunklen, sternengespickten Raum schweben würde. Ich wurde oft ohnmächtig, und einmal fiel ich gegen Mrs McCain und stieß sie zu Boden. Wir lagen zusammen in einer grotesken Umarmung da, zu erschöpft und mutlos, um uns zu erheben, und wir wären vermutlich so liegen geblieben, wenn uns Mrs Grant nicht angeschrien hätte, wir sollten gefälligst zur Besinnung kommen.
    Die Grenze zwischen Schlafen und Wachen war undeutlich geworden, und ich war niemals ganz sicher, was ich geträumt und was ich wirklich erlebt hatte. Das erschreckendste Beispiel hierfür war der Moment, in dem ich glaubte, dass Henry die ganze Zeit bei uns im Rettungsboot gewesen sei, wir ihn aber nicht erkannt hätten. Er hatte, so glaubte ich mit wachsendem Schrecken, die Uniform eines Seemanns
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