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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition)
Autoren: Charlotte Rogan
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als Ihre Schwester, in solchem Maße unabhängig sind, wie erklären Sie dann Henry?« Ich hatte Mr Sinclair immer sehr geschätzt, und bis zu diesem Moment hatte ich ihn als meinen Freund und Mentor betrachtet, denn alles, was er bis dahin gesagt hatte, war von Wärme und Herzlichkeit begleitet. Jetzt aber schien er etwas infrage zu stellen, obwohl ich mir nicht sicher war, was es war.
    »Ich liebe Henry«, sagte ich. »Ich denke, dass trotz allem möglichen Zwiespalt und Konflikt Platz sein muss für Liebe und Kameradschaft.« Ich wollte ihm meine Sicht der Dinge verdeutlichen, aber mir fallen oft nicht die richtigen Worte ein, und so dauerte es eine Weile, ehe ich hinzufügte: »Ich glaube nicht, dass man nur dann Mut und Stärke beweist, wenn man sein Leben allein meistert.«
    »Da stimme ich Ihnen zu. Aber Sie müssen zugeben, dass sich unsere wahre Natur nur in Situationen zeigt, in denen wir von anderen isoliert sind und uns einer großen Herausforderung stellen müssen.«
    »Und halten Sie die vorliegende Herausforderung für groß genug?«, erkundigte ich mich spitz, und er erwiderte, das sei sie in der Tat. Ich senkte den Kopf, um meine Verwirrung zu verbergen, und als ich wieder aufschaute, sah ich zu meiner Überraschung, dass Hannah mich mit ihrem Blick fixierte. Mich überlief es heiß und kalt, und beinahe hätte ich Mr Sinclair vergessen, der mich ebenfalls ansah, nicht unfreundlich, wie ich glaube, aber Hannahs Blick hielt mich in seinem Bann. Ich stammelte eine Erwiderung, dass ich mit Worten nicht so geschickt sei wie er und sein Bemühen schätzen würde, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. »Wir alle müssen uns dieser Prüfung unterziehen, Mr Sinclair, und ich hoffe, dass meine innerste Natur, die vermutlich bislang noch nicht zum Vorschein getreten ist, Ihr Wohlwollen findet.« Aber in diesem Moment, an diesem Tag war es nicht sein Wohlwollen, an dem mir gelegen war.
    Hannah schaute mich den ganzen Nachmittag lang immer wieder an. Irgendwann sagte sie: »Grace.« Nur dieses eine Wort – meinen Namen – ohne eine weitere Erläuterung, ohne jede Botschaft. Nur »Grace«.
    Aber auf dem Postschiff machte ich es wie die anderen, ich dankte Gott und sprach ihm die Fähigkeit zu, Henry zu retten, so wie er mich gerettet hatte. Allmählich kamen wir wieder zu Kräften, und an jenem letzten Abend, bevor wir Boston erreichten, sprach Isabelle nicht ihr übliches Gebet, sondern bestand darauf, dass wir des Diakons und Mr Sinlcairs gedachten, die sich freiwillig für uns geopfert hatten. Zu Ehren des Diakons ließ sie uns das Lied des Meeres rezitieren, das er uns beigebracht hatte – vor einer halben Ewigkeit, so schien es mir –, damit wir es aufsagen konnten, wenn wir gerettet wurden. Der einzige Teil, an den ich mich erinnere, lautet wie folgt: »Und durch den Hauch deiner Nase türmten sich die Wasser, es standen die Strömungen wie ein Damm, es gerannen die Fluten im Herzen des Meeres.« Das war wohl eine recht gute Beschreibung dessen, was wir erlebt hatten, und ich war froh, dass Isabelle daran gedacht hatte, denn der Rest von uns hätte es bestimmt vergessen. Auf dem Schiff befanden sich außer uns Überlebenden noch zehn weitere Passagiere, die sich nun um uns versammelten und uns zuhörten, wie wir blindgläubig einen blutigen Vortrag über den Auszug der Israeliten aus Ägypten hielten, wo Gott sein auserwähltes Volk beschützt und alle anderen ertrinken lässt. Aber vermutlich liegt es in der Natur des Menschen, sich auf irgendeine Weise auserwählt zu fühlen, und wir machten da keine Ausnahme.
    Das Land erhob sich wie durch Zauberhand aus dem Wasser, und während die anderen zur Reling hasteten, blieb ich zurück und fragte mich, ob jemand gekommen war, um mich willkommen zu heißen. Der Kapitän des Postdampfers hatte in ständigem Funkkontakt mit den Behörden gestanden, und mittlerweile hatten wir eine ziemlich gute Vorstellung davon, wer überlebt hatte und wer nicht. Mary Anns Mutter war vor etwa zwei Wochen gerettet worden, aber nirgends waren die Namen von Henry Winter oder Brian Blake erwähnt. Obwohl ich wusste, dass Henry nicht auf der Liste der Überlebenden stand, konnte ich die Vorstellung, dass er mich am Kai erwarten würde, nicht abschütteln.
    Das Land war blaugrün, anfangs von einem leichten Dunst verschleiert. Dann löste sich das Blaugrün in andere Farben auf – das Rot eines Leuchtturms und die bunte Vielfalt der vertäuten Boote. Ringsum an Deck erschallten
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