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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition)
Autoren: Charlotte Rogan
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darüber geredet, und es scheint uns gar nicht so weit hergeholt, wenn wir auf nicht zurechnungsfähig plädieren.« Die Idee, mich als geisteskrank zu deklarieren, erfüllte sie mit fröhlichem Optimismus. Waren sie vor dem Essen noch nervös und niedergeschlagen gewesen, so zündeten sie sich nun Zigarren an und gratulierten sich gegenseitig zu gewonnenen Fällen, von denen ich noch nie gehört hatte. Sie hatten offensichtlich die Köpfe zusammengesteckt, meinen Geisteszustand unter die Lupe genommen und entschieden, dass die eine oder andere Schraube locker sein könnte, und nachdem der erste Schock über mein Benehmen abgeklungen war und sie überlegt hatten, ob man die Sache nicht vielleicht wissenschaftlich erklären und zum Nutzen des Verfahrens ausschlachten könnte, tätschelten sie mir nacheinander den Arm und sagten: »Machen Sie sich keine Sorgen, meine Liebe. Immerhin haben Sie einiges durchgemacht. Überlassen Sie alles uns, wir kennen uns damit bestens aus.« Es fiel der Name eines gewissen Dr. Cole, und man versicherte mir, dass er »äußerst mitfühlend« sei. Dann ratterten sie eine Liste von Titeln und Spezialgebieten herunter, die mir alle überhaupt nichts sagten.
    Ich weiß nicht, wer auf die Idee kam – vielleicht war es Glover oder Reichmann, vielleicht auch der mausgraue Ligget –, dass ich mich hinsetzen und versuchen sollte, die Ereignisse jener einundzwanzig Tage zu rekonstruieren. Das »Tagebuch« sollte dann als eine Art Entlastungsmaterial dem Gericht präsentiert werden.
    »Aber in dem Fall sollte sie besser geistig gesund sein, ansonsten wird das Dokument doch nicht zugelassen«, meldete sich Mr Ligget vorsichtig zu Wort, als hätte er Angst, einen Misston in die Diskussion einzubringen.
    »Da haben Sie vermutlich recht«, meinte Mr Reichmann und strich sich über das lange Kinn. »Warten wir ab, was dabei herauskommt, bevor wir uns für einen Weg entscheiden.« Sie lachten und stachen mit ihren Zigarrenspitzen in die Luft und redeten über mich, als ob ich gar nicht da wäre, während wir gemeinsam zum Gerichtsgebäude zurückgingen, wo ich mit zwei weiteren Frauen, Hannah West und Ursula Grant, wegen Mordes auf der Anklagebank saß. Ich war zweiundzwanzig Jahre alt. Ich war zehn Wochen verheiratet gewesen und seit sechs Wochen Witwe.

Teil I

Erster Tag
    Am ersten Tag im Rettungsboot waren wir sehr still. Wir waren viel zu sehr damit beschäftigt, entweder das Drama zu verarbeiten, das sich in dem schäumenden Meer ringsum abspielte, oder es zu verdrängen. John Hardie, ein kräftiger und fähig wirkender Seemann und das einzige Mitglied der Mannschaft an Bord des Rettungsboots Nr. 14, übernahm sofort das Kommando. Er verteilte die Leute entsprechend ihres Gewichts auf die einzelnen Sitzplätze, und da das Boot sehr tief im Wasser lag, untersagte er es uns allen, ohne seine Erlaubnis aufzustehen oder heftigere Bewegungen zu machen. Dann zog er ein Steuer unter den Sitzen hervor, befestigte es in seiner Verankerung am hinteren Ende des Bootes und fragte schließlich, wer von den Insassen rudern könne. Drei Männern und einer kräftigen Frau namens Mrs Grant wurden die vier langen Ruder anvertraut, und Hardie gab Anweisung, das Boot so schnell wie möglich so weit wie möglich von dem sinkenden Schiff wegzubringen. »Rudert, was das Zeug hält«, befahl er, »wenn ihr nicht mit ins Verderben gerissen werden wollt!«
    Mr Hardie stand mit gespreizten Beinen und wachsamen Augen im Boot und steuerte geschickt um jedes Hindernis herum, das uns vor den Bug geriet, während meine vier Gefährten schweigend ruderten. Ihre Muskeln traten unter ihrer Kleidung hervor, und ihre Fingerknöchel wurden weiß. Weitere Insassen packten die Enden der langen Ruder, um mitzuhelfen, aber es fehlte ihnen an Übung, was dazu führte, dass die Blätter der Riemen über das Wasser fuhren oder flach hindurchglitten, wo sie doch mit der breiten Seite das Wasser nach hinten schieben sollten. Aus lauter Mitgefühl mit den Ruderern stemmte ich meine Füße gegen den Boden des Bootes, und bei jedem Ruderschlag spannte ich meine Schultern an, als ob ich auf diese Weise das Boot voranbringen könnte. Gelegentlich unterbrach Mr Hardie das schockstarre Schweigen mit Bemerkungen wie: »Noch zweihundert Meter und wir sind in Sicherheit.« Oder: »In zehn Minuten geht sie auf den Meeresgrund, vielleicht auch in zwölf, aber länger macht sie’s nicht.« Oder: »Neunzig Prozent der Frauen und Kinder konnten in
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