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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition)
Autoren: Charlotte Rogan
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Sicherheit gebracht werden.« Ich fand Trost in seinen Worten, obwohl ich mit eigenen Augen gesehen hatte, wie eine Mutter ihre kleine Tochter ins Wasser geworfen hatte und ihr nachgesprungen war. Keine von beiden war wieder aufgetaucht. Ob Mr Hardie es auch gesehen hatte, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ich glaube schon, denn diesen schwarzen Augen unter den dichten Brauen schien nichts zu entgehen. Wie auch immer, ich widersprach ihm nicht, und auch der Gedanke, er könnte uns wissentlich angelogen haben, kam mir nicht. Stattdessen sah ich in ihm einen Anführer, der versuchte, seiner Truppe Mut zuzusprechen.
    Unser Rettungsboot war eines der letzten, die zu Wasser gelassen worden waren, und so wirkte das Meer ringsum völlig überfüllt. Ich sah, wie zwei Boote zusammenstießen, als sie versuchten, dem Plunder auszuweichen, der auf dem Wasser trieb. Ein Teil meines Gehirns, der nicht von Panik überflutet war, begriff, warum Mr Hardie offenes Wasser erreichen wollte. Er hatte seine Mütze verloren, und mit seinen wild zerzausten Haaren und den blitzenden Augen schien er wie für die Katastrophe gemacht zu sein, die uns mit solchem Schrecken erfüllte. »Legt euch in die Riemen, Kameraden!«, schrie er. »Zeigt uns, aus welchem Eisen ihr geschmiedet seid!« Und die Ruderer verdoppelten ihre Anstrengungen. Gleichzeitig waren hinter uns etliche Explosionen zu hören, und die Schreie und das Kreischen der Menschen, die sich immer noch an Bord der Zarin Alexandra oder im Wasser dicht bei dem sinkenden Schiff befanden, klangen wie das Getöse der Hölle, wenn es eine Hölle gab. Ich warf einen Blick zurück und sah den mächtigen Rumpf des Ozeanriesen erzittern und schwanken, und zum ersten Mal fielen mir die Flammen auf, die an den Kabinenfenstern leckten.
    Wir kamen an zersplitterten Holzplanken vorbei, im Wasser trudelnden Fässern und schlangengleichen Tauen. Ich sah einen Liegestuhl vorbeitreiben, einen Strohhut und etwas, was ich für eine Stoffpuppe hielt – eine traurige Erinnerung an das schöne Wetter, das heute Morgen noch geherrscht hatte, und an die Urlaubsstimmung, die sich auf dem Schiff breitgemacht hatte. Als drei kleinere Fässer vor uns auftauchten, die gemeinsam auf den Wellen schaukelten, rief Mr Hardie »Aha!« und befahl uns, zwei davon an Bord zu nehmen. Er verstaute sie unter dem dreieckigen Sitz, der im spitz zulaufenden Heck unseres Rettungsbootes befestigt war. Er versicherte uns, dass sich in den Fässern Trinkwasser befand; wenn es uns gelang, uns so weit von dem sinkenden Schiff zu entfernen, dass wir nicht von dem Strudel mit in die Tiefe gezogen wurden, müssten wir uns, so meinte Hardie, vielleicht auf eine Zeit voller Hunger und Durst einstellen. Aber so weit im Voraus konnte ich nicht denken. Ich fand, dass die Oberkante der Reling unseres Bootes der Wasseroberfläche schon gefährlich nah war, und in meinen Augen bedeutete jeder Halt eine Verzögerung in unserem Bestreben, von dem sinkenden Schiff wegzukommen.
    Im Wasser trieben auch Leichen und hier und da klammerten sich Überlebende an Wrackteile. Ich sah eine weitere Mutter und ihr Kind. Das Kind hatte ein kreideweißes Gesicht. Es streckte mir die Hände entgegen und schrie. Als wir näher kamen, sahen wir, dass die Mutter tot war. Ihr Leichnam hing über einer Holzplanke, und ihr blondes Haar trieb wie Seegras im grünen Wasser. Der kleine Junge trug eine zierliche Krawatte und Hosenträger, und ich fragte mich unwillkürlich, warum ihn seine Mutter so unpassend angezogen hatte, obwohl ich immer Menschen bewundert habe, die es verstehen, sich gut zu kleiden, und obwohl meine eigenen Unterröcke, mein Korsett und die weichen Kalbslederstiefel, die ich erst vor Kurzem in London erstanden hatte, mich entsetzlich einengten. Einer der Männer rief: »Ein bisschen weiter hier herüber, dann steuern wir direkt auf das Kind zu!« Aber Hardie entgegnete: »Von mir aus. Und wer von Ihnen will seinen Platz mit dem Kind tauschen?«
    Mr Hardie hatte die raue Stimme eines Matrosen. Ich konnte nicht immer verstehen, was er sagte, aber das steigerte nur noch mein Vertrauen in ihn. Er kannte sich in dieser weiten Wasserwelt aus; er sprach ihre Sprache, und je weniger ich ihn verstand, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass er vom Ozean verstanden wurde. Niemand wusste etwas auf seine Bemerkung zu sagen, und wir fuhren an dem schreienden und heulenden Kind vorbei. Ein schlanker Mann, der neben mir saß, brummte: »Wir
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