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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition)
Autoren: Charlotte Rogan
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könnten doch stattdessen diese Fässer über Bord werfen und das arme Kerlchen herausfischen.« Aber dann hätten wir umdrehen müssen, und unser Mitgefühl für das Kind war bereits jetzt Teil der Vergangenheit, die hinter uns versank. Und so schwiegen wir. Nur der schmale Mann neben mir sagte etwas, aber seine dünne Stimme war über dem rhythmischen Ächzen der Ruderdollen, dem Brausen und Tosen ringsum und der Kakofonie aus menschlichen Stimmen, die Befehle brüllten oder laut aufschrien, kaum zu hören. »Es ist doch nur ein kleiner Junge. Wie viel kann so ein Knirps schon wiegen?« Ich erfuhr später, dass der Mann ein anglikanischer Diakon war, aber damals kannte ich noch keinen meiner Kameraden mit Namen und wusste auch nichts über ihren gesellschaftlichen Stand. Niemand antwortete ihm. Stattdessen legten sich die Ruderer in die Riemen, und wir imitierten ihre Bewegungen. Mehr konnten wir nicht tun.
    Nicht lange danach begegneten wir drei Männern, die im Wasser trieben. Mit kräftigen Schwimmzügen kamen sie auf uns zu. Einer nach dem anderen packten sie die Rettungsleine, die außen am Rand des Bootes verlief, und legten so viel Gewicht darauf, dass die Wellen in das Boot schwappten. Einer der Männer fing meinen Blick ein. Er war glatt rasiert und seine Gesichtshaut war rot vor Kälte. In seinen blauen Augen lag ein Ausdruck von großer Erleichterung. Auf Hardies Befehl hin schlug der Ruderer, der neben ihm saß, die Hände des einen Mannes weg, ehe er anfing, auf die Hände des nächsten einzuprügeln. Ich hörte Holz auf Knochen krachen. Dann hob Hardie seinen Fuß und trat mit der Sohle seines schweren Stiefels dem blauäugigen Mann ins Gesicht, der daraufhin einen überraschten und verzweifelten Schrei ausstieß. Ich konnte nicht wegschauen, es war einfach unmöglich, und noch nie in meinem Leben empfand ich so viel Mitleid wie für diesen namenlosen Mann.
    Wenn ich hier und jetzt berichte, was sich auf der Steuerbordseite des Rettungsbootes Nr. 14 abgespielt hat, dann ist es wohl purer Selbstschutz, wenn ich verschweige, dass sich ringsum in dem brodelnden Wasser tausend ähnliche Dramen abspielten. Irgendwo da draußen war Henry, mein Ehemann. Entweder saß er in einem Boot und wehrte Menschen ab, die versuchten, sich zu retten, oder er war selbst einer von jenen, die im Wasser trieben und weggestoßen wurden. Ich fühlte mich ein wenig erleichtert, wenn ich mich an die energische Bestimmtheit erinnerte, mit der er mir einen Platz in dem Boot gesichert hatte, denn ich war davon überzeugt, dass er dieselbe Energie auch für sich selbst aufgewendet hatte. Aber könnte Henry handeln wie Hardie, selbst wenn sein Leben davon abhinge? Könnte ich es? Mr Hardies grausames Vorgehen beschäftigte mich noch des Öfteren – natürlich war seine Tat abstoßend und keiner von uns anderen hätte die Kraft gehabt, diese entsetzliche und unwiderrufliche Entscheidung zu treffen, die einen starken Anführer erforderte, und es ist gewiss, dass uns diese Tat rettete. Ich wage sogar zu bezweifeln, dass sie grausam genannt werden darf, wenn doch alles andere, was wir hätten unternehmen können, unseren sicheren Tod bedeutet hätte.
    Es ging kein Wind, aber trotz der ruhigen See schwappte gelegentlich ein Schwall Wasser über den Rand des voll besetzten Bootes. Unsere Verteidiger führten vor ein paar Tagen ein Experiment durch, das bewies, dass eine einzige weitere erwachsene Person von durchschnittlichem Gewicht unser Boot mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum Kentern gebracht hätte. Wir konnten nicht jeden und gleichzeitig uns selbst retten. Mr Hardie wusste das und hatte den Mut, nach diesem Wissen zu handeln. Seine Entscheidungen in jenen ersten Minuten und Stunden machten den Unterschied zwischen Weiterleben und einem nassen Grab aus. Und seine Entscheidungen waren es, die Mrs Grant, die stärkste und selbstbewussteste der Frauen, gegen ihn aufbrachten. Mrs Grant sagte: »Sie Unmensch! Kehren Sie um und retten Sie wenigstens das Kind!«, obwohl selbst ihr klar sein musste, dass wir dem Untergang geweiht sein würden, wenn wir zurückfuhren. Aber diese Worte kennzeichneten Mrs Grant als Menschenfreundin und Hardie als kaltherzigen Teufel.
    Es gab auch Bekenntnisse zu Mitgefühl und Nächstenliebe. Die stärkeren Frauen kümmerten sich um die schwächeren, und es ist der standhaften Anstrengung der Ruderer zu verdanken, dass wir uns so schnell von dem sinkenden Schiff entfernten. Mr Hardie schien
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